
Unter dem Titel «Porträtier!» setzten die Lernenden ein Projekt um, bei dem der Mensch als zeichnendes Tier und als Tier unter Tieren auf einer inhaltlichen und physischen Ebene im Zentrum steht. Dabei werden den Lernenden verschiedene Zeichnungsstrategien nähergebracht. Dies befähigt sie, eine aktive Auswahl zu treffen, wie sie an eine Zeichnung herangehen. Als Endprodukt werden freie Mensch-Tier-Porträts entwickelt, bei denen die Wahl der Technik und des Vorgehens begründet wird. Die Grösse des Bildes wird vorgegeben. Die Komposition wird von den Lernenden erarbeitet.
Sachanalyse
Meine Praxislehrperson wünschte sich auf technischer Ebene, dass wir das Zeichnen behandeln, da dies in dieser Klasse bisher noch nicht thematisiert wurde. Während der Hospitation bat ich die Lernenden, mir ausgewählte Seiten aus ihren Skizzenbüchern zu zeigen, die Themen enthalten, die sie interessieren. Diese Einblicke dienten mir als Grundlage für die thematische Eingrenzung. Dabei fiel mir auf, dass viele Skizzen Augen, Gesichter und Münder darstellten. Spontan äußerten die Lernenden den Wunsch nach einem Großformat mit Öl auf Leinwand. Aufgrund der fachlichen Vorgabe des Zeichnens werde ich jedoch auf Öl und Leinwand verzichten, da die Zeit begrenzt ist und für die Arbeit mit Leinwänden ein gewisses Maß an Zeichen- und Malerfahrung erforderlich ist. Großformatige Arbeiten mit Pinsel sind jedoch durchaus umsetzbar.
Nach eingehender Recherche liess ich mich von der Übung zu Marlene Dumas in dem Buch „Art Assignments“ von Nora Ryser und Réka Szücs inspirieren. Durch Nass-in-Nass-Zeichnungen verschwimmt die Grenze zwischen Linie und Fläche, und die Trennung von Zeichnung und Malerei wird aufgelöst. Die Lernenden sollen Tiere in menschliche Porträts integrieren. Für die Kombination von Mensch und Tier im Porträt orientierte ich mich an der Praktikumsdokumentation von Yvonne Siegenthaler an der PH Bern.
Selbst fühle ich mich in meinem Ausdruck relativ sicher. Allerdings bin ich mittlerweile etwas aus der Übung, was bedeutet, dass ich langsamer arbeite und mein Blick nicht mehr so geschärft ist wie früher; ich benötige viel Zeit, um genau zu schauen. Daher habe ich die vorgesehenen Techniken vor der Feinplanung nochmals im Atelier getestet.
Bedingungsanalyse
Die Talentförderungsklasse Bildnerisches Gestalten im ersten Gymnasialjahr wird seit einem Semester von Peter Aerni unterrichtet. Der Kurs findet jeden Freitagnachmittag statt. Die acht Lernenden verfügen über ein Skizzenbuch und erhalten wöchentlich gezielte Inputs zu einem bestimmten Fokus für ihre Skizzen, die sie auch in ihrer Freizeit als Hausaufgabe umsetzen. In diesem Jahr haben sie bereits eine Sequenz zum Thema Farben durchlaufen und arbeiten derzeit an Fantasietieren, die sie mithilfe von Frottage und Graphit gestalten. Die Klasse zeichnet sich durch eine hohe Selbstständigkeit aus und zeigt viel Neugier und Engagement. Grundsätzlich wird in diesem Fach möglichst analog gearbeitet, wobei der Einsatz von Computern weitgehend vermieden wird. Dies erfordert von mir, meine Beispiele sehr gezielt auszuwählen und gegebenenfalls Arbeitsblätter bereits im Voraus auszudrucken. Das Inventar ist mir mittlerweile gut bekannt, da ich auch als Stellvertretung in demselben Raum unterrichte und selbst dort zur Schule gegangen bin.
Begründungsanalyse
Gegenwartsbedeutung
Indem wir anhand von figürlichen Motiven und verschiedene Techniken erlernen und üben, schärfen wir unser Auge und trainieren unsere Beobachtung. Wir können damit unser Hirn überlisten und merken, dass das, was wir sehen nicht immer das ist, was wir zu sehen glauben. Dies ist besonders beim Porträtzeichnen wichtig, weil unser Hirn besonders viele «Vorurteile» hat. Indem wir verschiedene Strategien testen, lernen wir auch, loszulassen und zu geniessen. Dies macht Spass und lässt auch Unbekanntes entdecken. Wir finden Neues heraus und vielleicht spricht uns eine Strategie besonders an. Dann kann dies auch den eigenen Stil beeinflussen. Mit dem Abzeichnen von Gesichtern werden wichtige Merkmale wie Augen, Nase, Mund oder auch der Ausdruck verschiedener Emotionen verinnerlicht. Mit der Übung finden wir heraus, wie viel oder wenig es braucht, damit ein Gesicht zum Gesicht wird. Dies fördert Empathie und emotionale Intelligenz, was für uns als soziales Tier in vielen Lebensbereichen wichtig ist.
Zukunftsbedeutung
Mit einer Palette an Zeichnungsstrategien fällt es leichter, auch später immer wieder ins Zeichnen zu kommen. Porträtzeichnungen sind eine wichtige Grundlache für die künstlerische und persönliche Entwicklung mit historischem Wert. Schon lange hat das Wiedergeben von Gesichtern und der Ausdruck in der Kunst Tradition. Das zu verstehen, hilft, die eigene Arbeit und den eigenen Stil zu kontextualisieren. Porträts können auch für die Eingabe von Portfolios nützlich sein. Selbstporträts sagen etwas über die eigene Persönlichkeit aus und sind in Zusammenhang mit Bewerbungsverfahren teilweise erwünscht oder machen sich zumindest gut in der Mappe. Sinnvoll kann dies für Studiengänge wie Illustration, Grafik, Modedesign oder auch Theater oder Film sein. Diese Übung ist zudem eine Dokumentation unseres persönlichen Prozesses. Angenommen, wir machen jeden Monat oder jedes Jahr ein Selbstporträt, hilft uns dies auch, unseren eigenen Weg zu reflektieren.
Lernziele
Fachlich: Die Lernenden…
- kennen die Vorteile verschiedener Zeichnungswerkzeuge (Bleistift, Graphit, Tusche) und Papiere (Skizzenpapier, Aquarellpapier) und können diese gezielt einsetzen
- können im Objektstudium gezielt folgende zeichnerische Strategien einsetzen: Abbildung des Negativraumes, Abbildung von Schattenpartien, Abbildung von erleuchteten Partien
- verstehen Licht- und Schattenkonzepte und können sie zeichnerisch umsetzen
- können die Wirkung von unterschiedlichen Grössenverhältnissen erklären und wie diese Zustande kommt (Staffelung, hinten klein, vorne gross, Liniendicke, Helligkeit)
- können Zeichnungen nass-in-nass anfertigen und lernen die Möglichkeiten dieser Technik durch eigenes Experimentieren kennen
- fertigen Zeichnungen nass-in-nass an und kombinieren diese mit Kohle, Graphit, Kreide oder Bleistift
- planen und erstellen ein Selbstportrait mit einem oder mehreren Tieren, indem sie eine Skizze erstellen und gezielt Techniken und Strategien für die Umsetzung auswählen
- begründen die gewählten Techniken und Strategien im Bezug auf die Wirkung und persönlichen Erkenntnis- /Forschungsinteressen
- erstellen eine Mappe mit Ausgewählten Arbeiten zur Dokumentation ihres Lernweges
Überfachlich: Die Lernenden…
- präsentieren ihren Lernprozess nachvollziehbar
- können Wahrgenommenes und Beobachtetes abstrahieren und mit bildnerischen Mitteln vereinfacht oder schematisch darstellen (Komplexitätsreduktion, abstrahierendes Denken)
- lassen sich auf Neues, Unbekanntes, Fremdes und potentiell Irritierendes ein. (Neugier)
- halten sich an die vorgegeben Firsten und planen ihr Projekt entsprechend
- navigieren Teilsequenzen selbstständig, helfen sich gegenseitig bei Unklarheiten und unterstützen sich im Lösen der Aufgaben (Kreativität)
- können eigene Erkenntnisse, Fortschritte und Herausforderungen formulieren (Resilienz)
Ablauf
Ich hatte das Privileg, 4 Lektionen am Stück unterrichten zu können. Die unten beschriebenen Sequenzen stehen jeweils für einen Block à 4 Lektionen.
Hier findet sich die detaillierte Planung als PDF
Lektion 1-8: Entdecken, Loslassen, Beobachtungen teilen und gegenseitig inspirieren
In der ersten Sequenz stellte das Thema vor und erläuterte die Ziele der kommenden Stunden. Als auflockernde Einstiegsübung begannen wir mit Blindzeichnungen und Linienzeichnungen auf A5-Papier. Die Lernenden erhielten ein Aufgabenblatt sowie ein Kriterienraster, das wir gemeinsam durchgingen. Ich führte sie durch verschiedene Übungen, darunter das Zeichnen von Negativräumen und das Erfassen von Licht und Schatten. Die Lernenden danach experimentierten mit nass-in-nass Porträts. Am Ende der Stunde kündigte ich unseren nächsten Ausflug ins Naturhistorische Museum an und gab ihnen die Hausaufgabe, ein Selbstporträt mit Fokus auf Komposition zu erstellen.
Arbeitsblatt Sequenz 1
In der zweiten Sequenz machten wir eine Exkursion ins Naturhistorische Museum Bern. Wir starteten wieder mit der Einstiegsübung, sich gegenseitig abzuzeichnen, ohne auf das Blatt zu schauen. Dann führte ich sie anhand eines Arbeitsblattes durch verschiedene Aufgabe, die das Zeichnen von Fluchtpunkten und die Beobachtung von Proportionen beinhalteten. Zuerst machten die Lernenden perspektivische Skizzen von Vitrinen und hielten ihre AHA-Momente schriftlich fest. Dann erstellten sie Skizzen von Tieren, um Inspiration für ihre Mensch-Tier-Porträts zu gewinnen. Am Ende der Exkursion reflektierten wir gemeinsam über die Erfahrungen des Tages anhand einer kleinen Auslegung.
Arbeitsblatt Sequenz 2





Lektion 9-12: Umsetzung und individuelle Besprechungen
In der dritten Sequenz widmeten wir uns der Vertiefung der Porträtzeichnung. Nachdem wir zum Einstieg tastend gezeichnet hatten und nochmal übten, Negativräume und Helle Flächen abzubilden, kombinierten die Lernenden die Skizzen aus dem Museum mit ihrem eigenen Gesicht und erstellten Kompositionsskizzen für das große Porträtprojekt. Ich unterstützte sie individuell bei der Umsetzung ihrer Ideen.
AUFGABENSTELLUNG «Porträtier!» als PDF




Lektion 12-16: Umsetzung Porträt
In der vierten Sequenz konzentrierten wir uns auf die Weiterführung und Vertiefung der Porträts. Zu Beginn gingen wir noch einmal das Auftragsblatt und das Kriterienblatt durch. Danach arbeiteten sie weiter an ihren Skizzen und experimentierten mit verschiedenen Techniken. Durch den Nachmittag hindurch stellte ich 3 Zitate von Künstler:innen vor, die der Inspiration dienten. Nach der Pause forderte ich dazu auf, die Ergebnisse in Kleingruppen zu besprechen. Die S*S sollten sich zuerst gegenseitig die Idee erklären, während die anderen nur zuhörten. In einem zweiten Schritt brachten sie sich gegenseitig Vorschläge und Ideen, mit welchen Strategien oder Techniken die Idee auch noch umgesetzt werden könnte.
«A hill or tree cannot make a good painting just because it is a hill or tree. It is lines and colors put together so that they may say something.»
— Georgia O’Keeffe
Lektion 17-20: Finalisieren, Ausstellen, Präsentatieren und Peer-Feedback
In der letzten Sequenz fand die Abschlusspräsentation statt. Die Lernenden schlossen mit den Porträts ab und arbeiteten an der Zusammenstellung ihrer Mappen. Dann bereiteten alle gemeinsam die Präsentation ihrer Arbeiten vor. Alle präsentieren ihren Prozess und ihr Fortschritte waren während die Gruppe zuhörte, konstruktive Notizen auf die Feedback-Zettel machte und Fragen stellte. Bevor ich die Klasse in die Ferien entliess, bat ich sie noch um ein Feedback zum Unterricht mithilfe von zusätzlichen Feedback-Zetteln.
Resultate
AUFGABENSTELLUNG Porträtier! PDF
ARBEITS- & BEURTEILUNGSUNTERLAGEN Porträtier! PDF
Reflexion
Das Einstiegsritual haben die S*S jeweils geschätzt und hat gut als Einstimmung in den Unterricht funktioniert. Es war sinnvoll, am Anfang verschiedene Strategien und Techniken vorzustellen. Alle Lernenden haben ihre Entscheidungen für Technik und Motiv in ihrer Projektarbeit nachvollziehbar erklären können. Die Notizen sollten ergänzend zu den Skizzen eine schriftliche Form sein, um den Lernweg zu vertiefen und zu dokumentieren. Einige haben sich oft und ausführliche Notizen gemacht, andere nur sporadisch oder nachlässig. Damit die Notizen auch für die Lernenden selbst sinnhaft sind, könnte es einem Möglichkeit sein, dass wir zu Beginn gemeinsam bestimmen, welche Form die Dokumentation annehmen soll.
Die Lernenden haben rückgemeldet, dass die die einzelnen Übungen lehrreich fanden und dass sie sich selber überwinden konnten, Neues auszuprobieren. Ich kann mir vorstellen, dass ich mit einer technisch geschlosseneren Aufgabenstellung diesen Effekt hätte erhöhen können. Dann hätten sich die Lernenden mehr Reibung einlassen müssen, der sie diesmal teilweise ausgewichen sind. In der offenen Aufgabenstellung war dafür der Lerneffekt bezüglich Planung und Begründung der Arbeitsweise höher.
Viele haben rückgemeldet, dass sie gerne noch mehr Zeit für Tests und Umsetzung ihres Porträts gehabt hätten. Hier würde ich dagegenhalten. Ich denke, wenn sie noch mehr Zeit erhalten hätten, wären sie vorsichtiger gewesen und hätten vielleicht noch länger am einzelnen Bild gehabt. Weil das Experiment, die Gestik und der Ausdruck im Zentrum standen, machte das schnell produzierende Arbeiten Sinn.
Ein Feedback, dass ich mir zu Herzen nehmen möchte, ist es, auf eine wertfreie und sachliche Sprache zu achten. Ich hatte mir zwar Mühe gegeben, wertfrei sprechen. Dennoch haben mir Lernende vereinzelt rückgemeldet, dass genau dies ich im Unterricht vermittelt hätte. Es kam der Vorschlag, dass ich anstatt «korrekt» beispielsweise «anatomisch korrekt» verwende.
Ich denke, dass ich das Lösen der Aufgaben mit mehr Bestimmtheit hätte einfordern können. Ich war manachmal konfliktscheu und wollte den Lernenden möglichst entgegenkommen. Gleichzeitig hatte ich aber innerlich klare Vorstellungen. Andererseits freue ich mich, mit mehr Mut zu einfachen und klaren Fragen und mehr Zeit für einzelne Aufgaben in den Unterricht zu gehen.
Quellen
Künstler:innen
https://www.tate.org.uk/art/artists/marlene-dumas-2407/marlene-dumas-rejects
https://gagosian.com/quarterly/2020/12/01/interview-jenny-saville-painting-self/
https://www.artnet.com/artists/elizabeth-peyton/
https://www.apollo-magazine.com/maria-lassnig-stedelijk-museum-review/
https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/selbstportraet-mit-affen-geliebte-vorvaeter
https://jameszucco.com/
https://www.francoisepetrovitch.com/drawings/ (alle abgerufen im Dezember 2024)
Bücher
Nora Ryser, Réka Szücs, 2023: Art Assignments – 18 Übungen zu Künstlerinnen
und ihren Werken. (1. Auflage). Bern: Haupt Verlag
Roberta Bergmann, 2016: Grundlagen des Gestaltens. (1. Auflage). Bern: Haupt
Verlag
Bestehende Praktikumsberichte
https://www.phbern.ch/praktikumsdokumentationen-bildnerisches-gestalten-sekundarstufe-ii
Im Besonderen Yvonne Siegenthalers Bericht “Tier in mir” und Rebecca Nosers
Bericht “Mich malen – Selbstportrait”. Ebeso zog ich den Bericht «Bilder auf der Suche nach dem Ich – Selbstporträt» von Regula Schläppi hinzu: https://project-box-art-teaching.ch/bilder-auf-der-suche-nach-dem-ich-selbstportraet/