Vom Selbstportrait zum Insta-Selfie
Mit einer gestalterischen Berufsmaturitätsklasse im 3. Lehrjahr an der Berufsschule Aarau thematisierte ich Aspekte der Selbstinszenierung in der Kunst und auf Sozialen Medien. Die Klasse untersuchte Bilder auf ihre Ästhetik und beleuchtete gesellschaftliche Fragen, welche sich in diesem Zusammenhang aufdrängen. Im ersten Teil erprobten die Schüler*innen durch Experimente einige Medien und näherten sich der Selbstinszenierung auf verschiedene Weise. Im zweiten Teil vertieften die Schüler*innen ihre Interessen in einem Schwerpunktprojekt weiter.
Inhalt
Die Begriffsdefinition von Wikipedia lässt deutlich werden, wie stark die Selbstinszenierung unser Leben prägt. Eine Auseinandersetzung mit ihr ist unumgänglich auf dem Weg der Identitätssuche.
«Selbstdarstellung/Selbstinszenierung ist die Art und Weise, wie sich ein Selbst, ein Ich, eine Person, eine soziale Gruppe oder eine Institution anderen gegenüber darstellt. Typische Ausdrucksmittel der Selbstdarstellung sind Sprachform, nonverbales Verhalten (Körpersprache) sowie unmittelbares oder medial vermitteltes ästhetisches Erscheinungsbild.»
Wikipedia
Durch Soziale Netzwerke wie Instagram, LinkedIn oder TikTok scheint die Selbstinszenierung im Privaten sowie im Job einen zusätzlichen Aufwind zu erhalten. Durch das Benutzen von Sozialen Netzwerken müssen Jugendliche nicht nur selbst entscheiden, wie sie sich gegen aussen präsentieren. Sie werden auch konstant mit inszenierten Identitäten aus ihrem Umfeld und von Influencer*innen konfrontiert. Das kritische Betrachten dieser Bilderflut war mir ein zentrales Anliegen. Die Fähigkeit zu einem differenzierteren Umgang mit digitalen Medien und deren Inhalt ist eine wichtige Fähigkeit für die Zukunft der Schüler*innen, davon bin ich überzeugt.
Auch kunstgeschichtlich ist die Selbstinszenierung ein relevantes Thema. Sie findet ihre Wurzeln in der Renaissance. Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock von 1503, wird oft als der Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Selbst in der Kunst zitiert. Ab dem 19. Jahrhundert wird die Selbstinszenierung zum Dauerthema. Künster*innen wie Vincent Van Gogh, Frida Kahlo, Max Beckmann oder Cindy Sherman bringen in ihren Werken ihre Gefühlszustände zum Ausdruck und experimentieren mit unterschiedlichen Identitäten.
Lernziele
- kritische Auseinandersetzung mit Medienbeiträgen aus dem Alltag in Bezug auf Text und Bildsprache
- eigene Positionierung zur Selbstinszenierung als Teil der Identitätsfindung
- Kennenlernen von prozesshafter Arbeitsweise
- Bildaufbau/Komposition
- Verfolgen eigener Interessen in einem Projekt, in Bezug auf Inhalt und/oder Formsprache
- Kennenlernen von Interessen der Mitschüler*innen, gegenseitige Unterstützung in prozesshafter Arbeitsweise
Beurteilungskriterien
- zwei Experimente
- Prozess
- Produkt
- Wahl der Veröffentlichung
- Kombination Text-Bild
- eigener Fokus/ eigenes Kriterium
- künstlerische Referenz
- Recherche in Schwerpunktgruppe
Ablauf
Grob kann das Unterrichtsprojekt in zwei Teile unterteilt werden. Während den ersten vier Doppellektionen erprobten die Schüler*innen im Rahmen einer Werkstatt einige Medien und Strategien, um sich der Selbstinszenierung zu nähern. In den darauffolgenden vier Doppellektionen gingen die Schüler*innen ihren eigenen Interessen in einem Schwerpunktprojekt nach. Zwischen dem selbstständigen Arbeiten plante ich 10-15-minütige Inputs ein und leitete Diskussionen im Plenum.
Experimente
Die Werkstatt bestand aus sechs “Experimenten”, wie ich sie nannte, in denen verschiedene Bereiche der Selbstinszenierung im Fokus standen. Die Aufgabenstellungen waren halb geöffnet formuliert. Ich variierte mit Parametern wie Medium, Inhalt, Zeit oder Art der Zusammenarbeit. Die Schüler*innen setzten beispielsweise Bilder der Kunstgeschichte in einen zeitgenössischen Kontext, indem sie die Personen mit Objekten aus der Moderne interagieren liessen. Die Umsetzung war durch die Form der Collage festgelegt.
Eine Auswahl an Experimenten der Schüler*innen:
Inputs
Ich startete in das Unterrichtsprojekt mit einem Input zur Appropriation Art, bei der ich kunstgeschichtliche Bezüge und aktuelle Kunstpositionen aufgriff. Anhand von Werbungen und Musikvideos stellte ich die Parodie als mögliche Aneignungsstrategie für ein späteres Projekt vor. Im Anschluss folgte ein erstes “Experiment”, bei dem die Schüler*innen ein selbst gewähltes Portrait zu zweit nachstellten. In einem weiteren Input zeigte ich Künstler*innenpositionen, bei denen die Darstellung des Selbst das Zentrum ihres Schaffens ist. Anhand mitgebrachtem Bildmaterial der Schüler*innen, welche sie auf Instagram und Pinterest zusammensuchten, diskutierten wir darüber, was ästhetisch ein gelungenes Bild ausmacht. Während dem Fernunterricht erstellte ich ein Input-Video, indem ich veranschaulichte, wie Künstler*innen oder Stars sich auf Sozialen Medien eine Identität kreieren und wie dazu mit Bild und Text gearbeitet wird.
Input und Übung zum Bildaufbau
Diskussionen und Übungen
Das Besprechen und Reflektieren dieser Bilderflut in Bezug auf die Selbstinszenierung in Sozialen Medien war ein Kernelement des Unterrichtprojekts. Als Diskussionsgrundlage dienten Bilder, die die Schüler*innen auf Sozialen Medien entdeckten und ausgedruckt in den Unterricht brachten. Wieso teilen wir Fotos? Wo beginnt die Selbstinszenierung überhaupt? Ist ein Selfie immer inszeniert und wozu dient es? Was ist ein gelungenes Bild? Gibt es dazu Regeln? Diese Fragen standen bei den Besprechungen im Zentrum. Beim Bubble-Speed-Dating sassen sich immer zwei Schüler*innen für zwei Minuten gegenüber und zeigten sich gegenseitig ihren Instagram-Feed. Durch diese Besprechungen und Übungen kamen die Jugendlichen mit den Bildwelten ihrer Mitschüler*innen in Kontakt und tauschten sich darüber aus. Widerspiegelt der Feed die eigenen Interessen oder gar die Persönlichkeit? Welche Themen tauchen vermehrt auf? Können daraus gesellschaftliche Probleme entstehen?
Schwerpunktprojekt
Die Schüler*innen hatten nun über weitere vier Doppellektionen Zeit, sich mit ihren Interessen und Fragestellungen rund ums Thema zu beschäftigen. In der Wahl des Mediums waren sie frei. Die Experimente, Inputs, Diskussionen und Übungen konnten als Anknüpfungspunkte dazu dienen. Zu Beginn der Projektarbeit teilte ich die Klasse in Schwerpunktgruppen mit ähnlichen Interessen ein. Die Schüler*innen konkretisierten ihr Schwerpunktprojekt zuerst in einer Recherche und suchten nach künstlerischen Referenzen. Die Breite und Qualität der einzelnen Projekte zeugten von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema und verschiedensten Medien.
Einblick in die Schwerpunktprojekte:
Einblick in die Prozessdokumentation:
Künstlerische Referenz Recherche
Schwerpunktgruppen
Die Schüler*innen hatten während der Arbeit am eigenen Projekt immer wieder Zeit, sich in den Gruppen gegenseitig auszutauschen und zu beraten. Ich als Lehrerin sollte nicht die einzige Feedback-Quelle bleiben. Anhand von einem Leitfaden zur Werkbetrachtung gaben sie sich gegenseitig Rückmeldung in Form einer Jury. Die Gruppen bildete ich wie folgt:
- Mode, Musik, Ästhetik
- Raumeinrichtung, Farbe, Komposition
- Gesellschaftsprobleme, Schönheitsideal, Vorurteile, Momentaufnahme
- Gefühle, Gegensätze, Extreme, Fantasie
Einblick in die Recherche der Gruppen:
Bildrecherche
Schüler*innen geben sich gegenseitig Rückmeldung zu ihrer Prozessdokumentation. Leitfaden ist das Werkbetrachtungs-Handout.
Vernissage
In der letzten Doppellektion hängten die Schüler*innen ihre fertigen Projektarbeiten unter eigener Kuration im Aufenthaltsbereich auf. Ein letztes Mal trafen sich die Schwerpunktgruppen und besprachen die Prozessmappen in einem Jury-Verfahren. Im Anschluss stellte jede Schwerpunktgruppe eine «Künstler*innenposition» aus der Gruppe im Plenum vor. Eine kleine Vernissage würdigte die ausgestellten Arbeiten und rundete das Unterrichtsprojekt ab.
Reflexion
Gelungen
Gesamthaft betrachtet sehe ich das Unterrichtsprojekt als gelungen. Die Klasse beteiligte sich intensiv am Unterricht und es kam zu inhaltlich nahrhaften Diskussionen. Während den Experimenten sowie im Schwerpunktprojekt arbeiteten die Schüler*innen selbstständig und engagiert. Die Feedback-Bogen bestätigen meine Annahmen, dass die Klasse das Thema “Selbstinszenierung” für wichtig erachtet und sich intensiv damit auseinandergesetzt hat. Auch die Experimente, Übungen in der Klasse sowie die Vernissage nahmen sie als erfrischende Abwechslung war. Weiter nahmen mich die Schüler*innen als kompetente, respektvolle Lehrperson wahr, die ihre Bedürfnisse ernst nahm. Bei Problemen und Unklarheiten war ich hilfsbereit und wirkte motivierend, soweit das Feedback.
Überdenken
Die Kritik der einzelnen Schüler*innen deckt sich ebenfalls mit meinen Beobachtungen: Zum einen entstand eine gewisse Überforderung durch die ungewohnte Freiheit für das Schwerpunktprojekt. Ihnen war unklar, was ich von genau von ihnen verlangte. Zum anderen wünschten sie sich einige Umsetzungsbeispiele. Bei ähnlich freien Arbeiten werde ich zukünftig Strategien, wie man ein künstlerisches Projekt starten kann, konkreter zum Thema machen. Mir scheint, die Schüler*innen konnten die Werkstatt mit den verschiedenen Experimenten zu wenig als Inspiration für die eigene Arbeit lesen und nutzen.
Zeitmanagement
Von Beginn an war mir bewusst, dass mein Unterrichtsprojekt sehr ambitioniert war. Die Verzögerungen durch die drei Doppellektionen im Fernunterricht haben meine Planung weiter gedrängt. Ich war froh um die Möglichkeit, mein Praktikum um eine Doppellektion zu verlängern. Das gab wieder Raum für einen anerkennenden Abschluss in Form der Vernissage. Während den einzelnen Doppellektionen reichte meine Feinplanung aus und ich konnte das Zeitmanagement gut einhalten.
Bewertung
Meine Ambitionen widerspiegelten sich auch in meinem Bewertungsbogen. Ich forderte von den Schüler*innen viele Teilaspekte für die Benotung (Prozessmappe, Experimente, Text, Form der Veröffentlichung, eigenes Kriterium…). Diese umfangreiche Abgabe wurde mir bei der Bewertung zum Verhängnis. Total verbrachte ich zehn Stunden mit dem Verteilen der Punkte und Noten. Die Kriterien im Bewertungsbogen werden ich zukünftig reduzieren. Ich bedaure, dass es mir nicht möglich war, die Noten innerhalb der Lektionen zurückzugeben. Vielleicht werde ich die Bewertung zukünftig vorziehen. So kann ich auf allfällige Fragen persönlich eingehen und eine kurze mündliche Rückmeldung geben.
Aussicht
Das Unterrichtsprojekt empfand ich als in sich kompakt und gut abgerundet. Auch zukünftig möchte ich gesellschaftliche Fragestellungen und den Umgang mit Bildern und Medien in meinen Unterricht einflechten. Allgemein sind mir Bezüge zur Lebenswelt der Jugendlichen wichtig, selbst wenn es um einen kunstgeschichtlichen Input geht.