Einleitung und Kontextualisierung
Das vorgelegte Unterrichtsvorhaben war in zwei Etappen gegliedert und umfasste die wenig üblichen Dreifachlektionen – dies vorausgeschickt, damit die interessierte Kolleg:in den Zeitaspekt nachvollziehen kann. Insofern boten drei Dreifachlektionen einen Einstieg auf theoretischer (nicht-praktischer) Ebene, gefolgt von fünf Dreifachlektionen in praktischer Erarbeitung.
Inhaltlich steht die Kalligraphie und die Länderfokussierung Japan im Mittelpunkt des Vorhabens. Damit einhergehend auch die Thematisierung Ost-West und wieder zurück zu Ost, insofern auch kunsthistorisch mittels dem Phänomen des Japonisme. Anhand von Texten von Claude Lévi-Strauss, aber auch durch spielerische Auslegeordnungen von weit verbreiteten Zeichensystemen fand eine Rahmung statt, um die Andersartigkeit von Japan im besonderen nachzuempfinden und Fernöstliches ganz abseits der Schweiz zu erhaschen.
Die Kalligraphie steht (sinn-)bildlich als Vorstufe zum gedruckten Buchstaben. Anhand von der Kalligraphie, im weiteren Sinne auch der Typografie und des Buchdrucks, lässt sich Fortschritt, Wissen, die Entwicklung der Menschheit erklären. Die heute alltägliche Akkumulation von Wissen wäre ohne eine physische Manifestation der Sprache, also einer grafischen Ausgestaltung von Wissen in Form von Zeichen, Buchstaben, Texten, nicht möglich gewesen. Als Gegenstück wäre hier oral history anzufügen.
Roland Barthes äussert sich zum (japanischen) Zeichen: «Es ist in bewundernswerter Weise Regeln unterworfen, angeordnet, dargestellt, niemals naturalisiert oder rationalisiert. Das japanische Zeichen ist leer: Sein Signifikat fliehe, es gibt keinen Gott, keine Wahrheit, keine Moral, die diesen Signifikanten zugrundeliegt, die ohne ihr Gegenstück herrschen» (Barthes, 1981, S. 4).
Thema des Vorhabens war auch ukiyo-e: vergängliche japanische Bildwelten der Edo-Zeit (1603 bis 1867), welche auf den Westen als Japonisme herüberschwabte. Kurz und vereinfacht gefasst: namhafte westliche Künstler wie Van Gogh und Monet – und viele mehr – begeisterten sich für die damals moderneren Formen und Ausprägungen der japanischen (Druck-)Kunst ukiyo-e und die andersartige Formensprache. So war u. a. das Sommerhaus von Monets Bruder in Givergny nahezu überfüllt mit japanischen Druckgrafiken.
Im Unterrichtsvorhaben eingelagert ist auch die Thematik der Zeichen schlechthin, also einer Semiotik wie sie zunächst von De Saussure und Peirce, später dann von Barthes und Eco entwickelt wurde. Alle theoretischen Konzepte wurden praxisnah und stufengerecht als kurze Sequenzen angeboten.
Sachanalyse
Kurz zusammengefasst: Es geht nicht um Typografie im eigentlichen Sinne – also weniger um die typografisch saubere Anwendung von Buchstaben und Regeln darum herum – sondern um das Nachempfinden und das Erstellen von Zeichen in einem künstlerischen Prozess. Diese Abgrenzung soll auch im Unterricht thematisiert werden. Die Frage der Interkulturalität soll eine übergeordnete Rolle spielen. Hier geht es also um Buchstabenformen, die im Beispiel von Japan ganz anders daherkommen und insofern gespiegelt werden. Was sind die japanischen Entsprechungen von Serifen, von durch Pinselstriche entstandene Formenvielfalt bei Buchstaben? Es ist typografische Kalligrafie oder eben interkulturelle kalligrafische Typografie. (Angrenzend zu Logokultur und Semiotik: Icon, Symbol, Zeichen. Abgrenzend zu Kalligrafie im Sinne von Schreibschriften.)
Auszug aus dem brainstorming:
– Formgebung mit dem Pinsel, die Formen an sich, Entstehung einer Schrift (konkret, aber auch in übertragenen Sinne – Entstehung des Alphabets – evolutionstechnologisch)
– Handhaltung, Körperhaltung, seelische Verfassung, Ruhe, Konzentration, im Moment sein, abtauchen, eins werden mit der Form, dem Pinsel, dem Papier, «Spiritualität des Machens»
– Mittel: verschiedene kalligrafische Pinsel, Papier, Farbe etc.
– Semiotik: Icon, Symbol, Index
– Logokultur: was macht ein Logo aus? Wiedererkennung, Marketing. Weshalb überhaupt? Unterschrift, japanischer Autorenstempel. Personifikation.
– Künstlerischer Prozess, geistige Klarheit, im Moment sein, zensurfrei, hindernisfrei, ohne Kontrolle, gehen lassen
– Entscheidungsfindung, Auswahlprozess und Selektion
Weitere Details zur Sach- und Bedingungsanalyse, siehe Pdf ‹Didaktische Analyse und Planung›.
Bedingungsanalyse
Kurz zusammengefasst:
– Daten: 25. April bis 20. Juni 2023
– Unterrichtsgefäss: 24 Lektionen
– Schule: Kantonsschule Wettingen, Kanton Aargau (kurz: KSWE)
– Gebäude: Palazzo, ein Nebengebäude nur für TTG und BG
– Schulzimmer: BG-Raum im EG, etwa 50m2 gross
– Klasse: 2. Schuljahr Kurzzeit-Gymnasium / SekII
– Anzahl SuS: 9 (2 m, 7 w)
– Sitzordnung: siehe Pdf weiter unten
Die Räumlichkeiten befinden sich in einem freistehenden Gebäudeteil namens ‹Palazzo› etwas abseits des restlichen Schulgebäudekomplexes. Ein wunderbarer Klostergarten und die Limmat umgibt den Palazzo. Das Schulzimmer ist ein etwa 50m2 grosser Raum im EG, das alleine für das Fach BG dient: rund 5 auf 10 Meter.
In der Unterrichtssituation der Hospitation sitzen die SuS relativ ‹legère› in den Stühlen, die Hälfte etwa mit Kopfhörern ausgestattet am Musik hören – zumindest bei EA-Projektarbeit. Ein Schüler nimmt mehrfach eine besondere Rolle im Klassengefüge ein. Eine räumliche Zweiteilung bei der Sitzordnung fällt auf, siehe unten.
Persönliche Ausgangslage:
– kalligrafische Skills bedingt vorhanden, für den Unterricht sollte es aber reichen
– Motivation fürs Thema ist vorhanden
– Die Zusammenhänge sind wichtig. Aber auch der Output sollte nicht zu kurz kommen.
– Mein Verständnis von BG-Unterricht: nicht nur als handwerkliches Tun, sondern kognitiv ebenso fordernd als auch handwerklich mit kognitiven Inhalten verknüpfend
Begründungsanalyse
Westeuropa bzw. die Schweiz stehen im kulturellen Einflussgebiet von den USA. Auf vielen verschiedenen Ebenen erreichen uns mainstream-Trends, nicht zuletzt über Content-Provider, Medien und Google-Treffer. Japan hat durchwegs auch eine eigene Fangemeinde und bildet insofern eine eigene bubble, allerdings kaum auf Zielstufe. Die sprachliche Hürde zum Osten ist insofern grösser, da die englische Sprache, weltweit betrachtet, mehr Verbreitung findet – und dies obwohl Japan auch über 130 Mio. Einwohner verfügt.
Diese Ausgangslage liefert den Steilpass zum Gegentrend und damit zur vorliegenden Themenwahl. Anstelle von machtvollen Einflüssen wie Hollywood und big tech / big five (also Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) soll der Horizont gegen Osten hin geöffnet werden. Fundstücke aus dem Osten sind deutlich weniger bekannt und damit lassen sich viele Leckerbissen entdecken.
Anhand dieser Leitlinie lässt sich der gewählte Unterrichtsinhalt abrollen und legitimieren. Siehe auch ‹Einleitung und Kontextualisierung› weiter oben.
Im Lehrplan der KSWE lassen sich die gewählten Unterrichtsinhalte u. a. bei folgenden Kernkompetenzen verorten:
– Typografie: Schrift als Gestaltungsmittel spielerisch und gezielt anwenden
– Bildsprache: inhaltliche Aussage, Information und Symbolik von Bildern benennen und in Bezug zu formalen Ordnungsprinzipien und bildnerische Darstellungsarten setzen
– Visuelle Kommunikation: Bildaussagen erkennen, kritisch beurteilen und in der eigenen Arbeit gezielt steuern (Semiotik).
Auszug aus dem brainstorming:
– Kalligrafie, Typografie: Bezug zur Geschichte, Evolution, Wissen und Sprache, Information / Technologie, Informationsgesellschaft, Buchdruck, Reformation, digitale Medien, Programmierung, Programmiersprache.
– Schriftliche Überlieferung im Gegensatz von mündlicher Überlieferung. Oral history.
– Visuelle Kommunikation: Charakter, Identität, Wiedererkennung, Botschaften
– Ohne Buchstaben, vielleicht sogar kein Lernen, kein Verstehen? Umgekehrt: Buchstaben sind extrem
wichtig. Wichtig hier genauer hinzuschauen. Die Geschichte des Alphabets. Griechischer Name, aber die
Zeichen sind dennoch römischer Abstammung (also Latein, latin)
Planung und Lernziele
Japan
Der Länderfokus und Themenschwerpunkt Japan wird im Unterricht mehrperspektivisch eingebracht. Über akustische Reize einer traditionellen japanischen Laute namens shamisen, über Fotos, Druckgrafiken und Bilder, über Texte. Solche, die einfach zugänglich sind (Neuenkirchen, 2013) oder auch komplexere (Lévi-Strauss, 2017) – aber auch über den Genuss eines japanischen Tees und vielen visuellen Inputs, die im Klassenzimmer ausgelegt sind. Japanische Kultur wurde auch besprochen: welche japanischen Begriffe sind auch in der Schweiz bekannt?
Praktische Erarbeitung
In einer Gegenüberstellung standen sowohl römisch-lateinische Kalligrafiewerkzeuge als auch japanische zur Verfügung. Pro geografischer Herkunft gab es je eine angeleitete Dreifachlektion der Erprobung von Werkzeugen und ihren Strichmöglichkeiten – angeboten als Stationenarbeit.
Weitere drei Dreifachlektionen standen für den Arbeitsauftrag zur Verfügung. Ausführliche Erläuterungen und Anleitungen fanden zu Beginn jeder Dreifachlektion statt. Jeder einzelnen Arbeitsschritt wurde je nach Bedürfnissen begleitet und gecoach’t.
Arbeitsauftrag
Inspirationen, Kalligrafiewerkzeuge und andere Impressionen
Unterrichtssituationen
Fertige Arbeiten
Besprechungen
Jeweils unmittelbar nach Ende der Unterrichtseinheit besprachen die Praxislehrperson und der Praktikant die eben erlebte Sequenz in rund 45 Gesprächsminuten. Direktes Feedback und ein anregender Austausch fand statt. Schlüsse für die folgende Sequenz wurden gezogen. Mentor Simon kam gegen Ende des Praktikums zu einer Hospitation und die direkte Nachbearbeitung fand zu dritt statt.
Reflexion
Meine Recherchetätigkeiten stellen sich jeweils als sehr umfangreich heraus. Der Aufwand ist entsprechend gross. Dennoch ist es inhaltlich für mich sehr spannend und eben auch lehrreich, selbst dort ‹weiter› zu lernen und forschen zu können, wo ich selbst gerade stehe. Für den Unterricht und die SuS ist eine ‹Entschlackung› bzw. Vereinfachung und Selektion der Inhalte sinnvoll. Es bietet sich der Weg der Exemplarität (Wildhirt & Wespi, 2016, S. 3) an. Solange ich die verfügbare Zeit habe, würde ich dies wieder gleich angehen.
Die zeitliche Ausdehnung über 24 Lektionen bedarf einer übergeordneten, gut strukturierten Planung.
Auf fachlicher Ebene betrachte ich den geleisteten Unterricht als gelungen an. Dies spiegelte sich auch in den Feedbackrunden, den Erzeugnissen und den Lernberichten der SuS.
Für meinen persönlichen Geschmack würde ich ein nächstes Mal die Sitzordnung und das damit verbundene ‹soziale Gefüge› noch verbessern. Die Startlektionen brachten zwar den gewünschten Effekt, allerdings fielen die SuS schnell wieder in alte Muster zurück und setzten sich an ihre angestammten Sitzplätze. Da hat sich bereits etwas eingespielt, worauf ich als externe Praktikumslehrperon nicht mehr eingreifen konnte.
In meiner Diplomprüfung an der PHLU thematisierte ich reflektierend die Notengebung und die Stringenz der Beurteilungssituation kritisch: «Fehlendes kritisches Denken bzw. mangelndes Reflexionsvermögen seitens der LP führt zwingend zu falscher Leistungsbeurteilung (und entsprechender Notenfolge) – vor allem im Bildnerischen Gestalten.» Etwas neutraler ging ich dort dem vermeintlichen Widerspruch zwischen strikter Planung und Beziehungsebene nach: «Eine rigoros durchgetaktete Feinplanung lässt keinen Spielraum für die LP-SuS-Beziehung bzw. empathische Interaktionen zwischen SuS und LP offen.»
Die Zusammenarbeit mit der Praxislehrperson war sehr angenehm und inspirierend.
Literaturverzeichnis
Barthes, R. (1967). Elements of Semiology. Cape.
Barthes, R. (1981). Das Reich der Zeichen. Edition Suhrkamp.
Baur, R. & Kong, E. L. (2019). Visual Coexistence: New Methods of Intercultural Information Design and Typography.
Bichsel, P. (1995). Ein Tisch ist ein Tisch: eine Geschichte.
Davies, B. (2019). Tusche: Materialien. Techniken. Ideen.
Eco, U. (2002). Einführung in die Semiotik. UTB GmbH.
Folkwang, M. (2014). Monet, Gauguin, van Gogh . . . Inspiration Japan.
Fontane, T. (1994). Effi Briest. Ullstein.
Japanese kanji search for „泳 #kanji“. (o. D.). Jisho. https://jisho.org/search/%E6%B3%B3%20%23kanji
Lévi-Strauss, C. (2017). Die andere Seite des Mondes: Schriften über Japan. Suhrkamp Verlag.
Meyer, H. (2004). Was ist guter Unterricht? Cornelsen Verlag Scriptor.
Neuenkirchen, A. (2013). Gebrauchsanweisung für Japan.
Wikipedia-Autoren. (2002, 25. Juli). Sanskrit. https://de.wikipedia.org/wiki/Sanskrit
Wikipedia-Autoren. (2003, 15. November). Matsuo Bashō. https://de.wikipedia.org/wiki/Matsuo_Bash%C5%8D
Wikipedia-Autoren. (2004a, Januar 10). Arabische Zahlschrift. https://de.wikipedia.org/wiki/Arabische_Zahlschrift
Wildhirt, S. & Wespi, C. (2016). Einleitung. In: PH Luzern (Hrsg.), Unterrichtseinheiten planen: Bausteinheft 5. PH Luzern.
Wikipedia-Autoren. (2004b, März 7). Ukiyo-e. https://de.wikipedia.org/wiki/Ukiyo-e
Wikipedia-Autoren. (2006, 29. Januar). Japonismus. https://de.wikipedia.org/wiki/Japonismus