Abstract
In diesem Projekt beschäftigen sich Schüler*innen entlang einer selbstgewählten Fragestellung mit dem Thema der Architektur und insb. der Zersiedelung. Auf mehrere Einstiegsübungen bauend, wählen sie die gestalterische Mittel (wie Zeichnung, Fotografie Modellbau) selber und sind aufgefordert ihren Arbeitsprozess eigenständig zu steuern. Der Unterricht folgt den von Helga Kämpf-Jansen formulierten Prinzipien der Ästhetischen Forschung.
Gymnasium Biel-Seeland, 2. Jahr Kurzzeitgymnasium, 24 Schüler*innen
Literatur zu Ästhetischer Forschung:
Inhalt
Grundbegriffe
Unter Architektur versteht man – allgemein formuliert – die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit gebautem Raum. Dies können Häuser, Flughäfen, Strassen Fabriken, Zäune, Schrebergärten usw. sein.
Unter Zersiedelung versteht man – knapp formuliert – das unstrukturierte und ungeregelte Errichten von Gebäuden in den unbebauten Raum hinein. Oftmals fehlt ein Zusammenhang zu anderen Ortsteilen und der Umgebung und die bebaute Fläche ist im Verhältnis zu ihrem Nutzen als Wohn- oder Arbeitsort sehr gross. Bebaute Flächen verdrängen so zunehmend Kulturland, wie zum Beispiel Wälder, Wiesen, Moore. Seit ungefähr 1970 werden in der Schweiz gegen diese Entwicklung gezielte Massnahmen, wie zum Beispiel eine strengere Raumplanung, ergriffen.[1] Wirtschaftliche, private und ökologische Bedürfnisse gehen allerdings stark auseinander, was die Umsetzung solcher Massnahmen erschwert.
Begründung
Inhalt
«Bis das Raumplanungsgesetz 2013 eingeführt wurde, hat man Landflächen in der Schweiz schlicht zugebaut – innerhalb von 30 Jahren mehr als die Fläche des Genfersees.Obwohl das Wachstum mittlerweile nicht mehr so stark voranschreitet, ist der Schweizer Raum zersiedelt: Flächen werden nur locker bebaut und drängen zusammenhängende Grünflächen zurück.»[2]
Das Praktikum fand am Gymnasium in Biel statt. Einer Region, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Jura-Gewässer-Korrekturen durch grossflächige Landwirtschaft und ausufernden Gemeinden geprägt ist. Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum stärkt die Sensibilität, wie mit der Ressource Land umgegangen wird und welche Zusammenhänge beispielsweise zwischen dem Bauen von Einfamilienhäusern und Verkehrsproblemen besteht.
Ästhetische Forschung
Ästhetische Forschung ermöglicht den Schüler*innen einer eigenen Forschungsfrage nachzugehen, mit den Mitteln ihrer Wahl zu arbeiten und vor allem Verknüpfungen zwischen ihren Fragen, Beobachtungen im Alltag und Inhalten anderer Schulfächer herzustellen. Die Schüler*innen lernen grosszügiges Sammeln und Kategorisieren von Vorgefundenem und Selbsterstelltem. Ästhetische Forschung ermöglicht eine sinnliche Auseinandersetzung mit für die Schüler*innen relevanten Themen. Es wird dadurch ein vielschichtiger Zugang geschaffen, der in anderen Fächern womöglich kurz kommt.
Lernziele und Beurteilungskriterien
Lernziele
- Architektur und Zersiedelung als Begriffe verstehen.
- Sich auf sinnlicher, forschender und kognitiver Weise mit dem gebauten Raum auseinandersetzen. Z.B. Oberflächen fühlen und zeichnen, ihre Wasserdurchlässigkeit erproben.
- Mit gestalterischen Mitteln forschen und die Erkenntnisse ausdrücken können. Z.B. Lichteinfall im eigenen Zimmer fotografisch festhalten.
- Interessenskonflikte, die mit dem Bebauen von Raum entstehen, erkennen. Z.B. Ein grosses Wohnhaus verkleinert den Lebensraum für Tiere.
- Eine eigene Forschungsfrage entwickeln.
- Den eigenen Forschungsprozess steuern.
Beurteilungskriterien
- Untersuchende Arbeit: Das Thema vielseitig und mit verschiedenen gestalterischen Mitteln untersuchen. Vielseitig recherchieren.
- Erfindungsvermögen: Eine eigene Forschungsfrage finden und weiterentwickeln. Gestalterisch neue Wege gehen.
- Umgang mit Beispiel: Beispiele (Kunst, Architektur…) und eigenen Beobachtung in die Arbeit miteinbeziehen.
- Fähigkeit zur Selbstbeurteilen: Stärken und Schwächen erkennen und ausdrücken. Den Arbeitsprozess steuern.
Ablauf
Das Unterrichtsprojekt läuft über 16 Lektionen. In den ersten 4 Lektionen werden die Schüler*innen anhand von Einstiegsübungen (Wahrnehmung des Stadtraums mit Spielkarten, Zersiedelungssimulation) mit dem Thema vertraut und arbeiten in den restlichen 12 Lektionen an ihren eigenen Projekten.
Die Arbeit am eigenen Projekt ist in drei Phasen gegliedert:
Erste Phase: Eine Frage finden
Bereits während den ersten 4 Lektionen suchen sich die Schüler*innen mithilfe der Einstiegsübungen eine Forschungsfrage zu den Themen Architektur und Zersiedelung. Die Frage soll die Schüler*innen interessieren und mit ihrem Leben in Verbindung stehen. Dies erleichtert den gesamten Arbeitsprozess und erhöht in der Regel die Motivation. Fragen nach dem eignen Traumhaus, emotionalen Wirkungen von Farben im Innenraum bis hin zu Untersuchungen von Dachformen werden unternommen.
Zweite Phase: Die Frage erweitern
In dieser Phase sammeln und erstellen die Schüler*innen Material zu ihrer Forschungsfrage. Sie können draussen zeichnen, Protokolle schreiben, Texte sammeln, fotografieren, online recherchieren… Es geht darum, die Forschungsfrage zu öffnen und möglichst viele Aspekte miteinzubeziehen, zu entdecken.
Dritte Phase: Die Frage untersuchen
In dieser Phase ordnen und kategorisieren die Schüler*innen das gesammelte Material: was wurde gefunden? Gibt es überraschende Zusammenhänge?
Die Schüler*innen entscheiden sich für einen Aspekt ihrer bisherigen Recherche und vertiefen diesen. Sie bauen z.B. ein Modell des eigenen Zimmers und ändern mithilfe von Fotografien die Sicht aus dem Fenster, um deren Wirkung auf das Zimmer zu untersuchen.
Abschluss: Rundgang
Am Ende stellen die Schüler*innen ihre Arbeiten aus. Anhand kleiner zeichnerischen Aufgaben (z.B. welche Arbeiten haben mit Natur zu tun? Welche Gemeinsamkeiten gibt es zu entdecken?) sind sie aufgefordert, ihre Beobachtungen festzuhalten. Darauf folgt – unter anderem mithilfe des zeichnerisch Festgehaltenen – eine Besprechung des Projekts.
Begleitung und Prozessgestaltung
Die Schüler*innen sollen ihren Arbeitsprozess selber steuern. Dazu erhalten sie ein grobes Schema, das sie dabei unterstützen soll, den Prozess zu gestalten. Für die Begleitung sind verbindliche Termine ausgemacht, um in kleinen Gruppen über den Stand der Arbeit zu berichten und um sich gegenseitig zu unterstützen. Somit erhalten sie Einblick in die Arbeiten der Mitschüler*innen.
Mit einzelnen Schüler*innen, die eine stärkere Begleitung benötigen, werden zusätzlich individuelle Aufgaben für die Zeit ausserhalb des Unterrichts festgelegt und verbindlich festgehalten.
Reflexion
Die Themen Architektur und Zersiedlung, sowie das Arbeiten mit einer eigenen Forschungsfrage und einem selbstgesteuerten Prozess ist für die Schüler*innen sehr anspruchsvoll. Trotz Vorlage, wie der Arbeitsprozess eingeteilt werden kann, ist es vielen Schüler*innen nicht gelungen, auf das bereits erarbeitete zu schauen, um daraus nächste Schritte abzuleiten. Erst nach einigen Wochen habe ich deswegen das Führen von kurzen Protokollen eingeführt, die Reflexionen aus Gesprächen oder eigenen Erfahrungen anhand einfacher Fragen (woran arbeite ich? Was habe ich bisher gemacht? Was will ich als nächstes unternehmen?) und das Formulieren nächster Arbeitsschritte von den Schüler*innen anregten. Diese Protokolle schaffen eine Verbindlichkeit, die sich als sehr wichtig herausgestellt hat.
Es fällt auf, dass Schüler*innen mit einer Forschungsfrage, die ihrer Biografie, ihrem Leben nah ist, vielseitiger und verknüpfter arbeiten: Inhalte aus anderen Fächern miteinbeziehen oder ihr Umfeld zu einem Thema befragen.
Einige Schüler*innen haben den Schritt in die oben beschrieben dritte Phase nicht geschafft. Zwar haben sie Material gesammelt, daraus jedoch keine Weiterentwicklungen mehr unternommen. Das ist mir erst mit etwas zeitlichem Abstand bei der Beurteilung der Arbeiten aufgefallen. Möglicherweise ist den Schüler*innen nicht klar gewesen, wie eine Weiterentwicklung angegangen werden kann. Das Zeigen von Beispielen könnte dabei helfen.
Da es für die Schüler*innen, als auch für mich als Lehrperson die erste Erfahrung mit Ästhetischer Forschung war, gibt es in Zukunft einige Punkte (Prozessgestaltung, Sammeln und Ordnen) verstärkt zu beachten. Ich bin mir sicher, dass sich nach einer Auswertung des Projekts mit der Klasse ein zweiter Versuch lohnen würde, da Thema, Vorgehensweisen und Abmachungen im Vorfeld mit der Klasse besprochen und auf die bestehende Erfahrung aufgebaut werden könnte.
Fortführung
Als Fortführung bietet sich ein technischer Block, wie z.B. Landschafts- oder Architekturfotografie, Modellbau, perspektivisches Zeichnen… an. So liessen sich Techniken mit einem konkreten Inhalt verbinden.
Impressionen des Rundgangs
[1] Frey, René L. Räumliche Entwicklung und Zersiedelung. CREMA, 2011, S.4
[2] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/raumplanung-und-zersiedelung-wie-die-schweiz-das-zersiedelungsproblem-stoppen-koennte (aufgerufen am 08.02.2021)