Zerstörung und Wiederaufbau – Praktikum am Gymnasium
Abstract
Dieses Praktikum hat über neun Wochen zu je eine Doppellektion die Woche ab Ende September bis Mitte Dezember 2020 in Freiburg (CH) am College St. Michelle in einer 3. Klasse Kurzzeitgymnasium (d.h. mit 18- bis 20-Jährigen) stattgefunden; die Unterrichtssprache war dabei Französisch. Die inhaltliche Vorgabe der Praxis-Begleiterin war der kunstgeschichtliche Übergang von der modernen zur zeitgenössischen Kunst. Fokuspunkte gab es dabei zweierlei: zum einen die Kunstbewegung Fluxus und die Anfänge der Performance Kunst zum andern aber auch das Objet trouvé.
Sach- und Begründungsanalyse
Die Sache, um die es sich in diesem Praktikum gehandelt hat, war der Wandel im Umgang mit Medien und mit dem menschlichen Körper in der Kunst. Letzteres ist geprägt vor allem von der Haltungsänderung vom Abbilden und Idealisieren zum Erleben und Hinterfragen. Ein Wechsel, der vor allem durch die historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts zustande gekommen ist. Die Kunstgeschichte repräsentiert die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner Umgebung. Ein bedeutender Augenblick war aber als die Kunst selbst – zuerst durch Duchamp und dann durch viele Andere – infrage gestellt wurde, denn dies hat eine zuvor ungeahnte Öffnung im Ausdruck und Medieneinsatz mit sich gebracht. Weitläufig ist damit auch die Instrumentalisierung von Kunst verbunden, etwas, das für mich persönlich von Interesse ist. Mich interessiert, wie es dazu gekommen ist, und was die Auswirkungen und Erscheinungsformen instrumentalisierter Kunst sind. Für eine Schulklasse habe ich es aber als sinnvoller geachtet, dass wir uns selbst mit dem Prozess des Hinterfragens auseinandersetzen und so bin ich schnell auf die Ellipse gestossen: eine organische, geometrische Form welche durch die Mehrzahl ihrer Fokuspunkte (nämlich zwei anstelle von einem, wie bei ihrem Verwandten dem Kreis) gekennzeichnet ist. Für mich ist die verbindende Achse zwischen F1 und F2 auch stets im Wandel und dadurch entsteht vor meinen inneren Augen ein dynamischer Körper: Stets in Bewegung und der Änderung ausgesetzt. Das ist wie ein Sinnbild für die menschliche Existenz, welche sich als Spannungsfeld zwischen zwei oder gar mehreren oft gegensätzlichen Polen abspielt. Es gibt das Innere und Äussere, die Objekt- und die Metaebene, Tag und Nacht, Arbeit und Freizeit, Mikro- und Makroebene und vielleicht unendlich vieles mehr. Aus diesem Spannungsfeld heraus handelt der Mensch. Vieles, was er schafft, vor allem in der Kunst ist dabei ebenfalls nach diesen Grundsätzen geformt (es sei denn, er bemüht sich bewusst darum, etwas Polarisiertes zu kreieren). Den künstlerisch/kreativen Prozess habe ich, sehr stark an die Graphik der ästhetischen Forschung nach Christine Leuschner angelehnt und für meine Schulklasse wie folgt dargestellt (siehe Abb. unten). Die zwei Brennpunkte waren dabei die Idee und das Produkt.
Lernziele und Beurteilungskriterien
Aufgabe der SuS war es im Rahmen dieses Projektes entlang den oben skizzierten Linien einen künstlerisch/kreativen Prozess zu planen, durchzuführen und zu dokumentieren. Dabei waren die Vorgaben, dass im Rahmen einer Performance ein oder mehrere «gefundene Objekte» zerstört werden sollen, welche anschliessend neu zusammengestellt werden.
Ohne es explizit den SuS gegenüber auszudrücken, ging es dabei um den Lernprozess, ein Prozess, der uns ein Leben lang begleitet. Immer wieder bauen wir uns im Kopf Konstrukte über uns selbst, der Umwelt oder Personen in unserem Leben zusammen, welche irgendwann ihre Gültigkeit verlieren oder diese auch niemals besassen, und neuen Erkenntnissen entsprechend, abgebaut oder umgeformt werden müssen. Die SuS konnten sich daher konkret auf den Inhalt bezogen unterschiedliche Lernziele setzten.
Was ich von ihnen verlangt habe, ist dass sie sich «Dingen» bewusstwerden und hinter die scheinbare Selbstverständlichkeit jeder kleinsten Handlung, jedes Ereignisses oder Objektes blicken. Dass sie nach der Essenz der Dinge suchen.
Die Endnote war dann zusammengesetzt aus drei Teilnoten: Eine erste Note für eine schriftliche Kunstbeispielanalyse (20%), eine Note für die Schlussreflexion in Schriftform über das ganze Projekt (20%) und die Dokumentation (60%) des ganzen Prozess. Was mir persönlich bei der Analyse des Kunstwerks wichtig war, war das selbstständige Identifizieren des Kunstwerks und das Verorten im kunsthistorischen Kontext. Bei der Dokumentation lag der Fokus auf die Sensibilisierung für neue Perspektiven und das Finden von Spannungsfeldern im Alltag. In die Dokumentation ist auch die eigene Biografie hineingeflossen. Diese konnte in der Schlussreflexion erneut aufgegriffen werden aber nur um gezielt die Wahl des Objektes und die Bedeutung der Zerstörung und Rekonstruktion zu begründen/erläutern. (Für die genauen Kriterien siehe Anhang.)
Ablauf
Nach den ersten drei Unterrichtswochen, waren schon zwei Wochen Herbstferien. Da unmittelbar nach den Herbstferien, die SuS schon die schriftlichen Kunstbeispielanalysen einreichen mussten, habe ich in den ersten drei Wochen Kunstgeschichte unterrichtet und dabei das Analysieren von Kunstwerken vermittelt. Kunstbeispiele, die wir uns gemeinsam angeschaut haben, waren die Allee der Helden von Brancusi, La fontaine von Duchamp, 4’ 33’’ von John Cage und Cut Piece von Yoko Ono. Vor allem die Einheit in welcher wir uns die Gruppe Fluxus und John Cages Musikstück 4’33’’ angeschaut haben ist mir persönlich als eine sehr eindrückliche Unterrichtsstunde in Erinnerung geblieben, da wir im Anschluss an den regulären Input im BG-Saal, die Möglichkeit hatten, zu einem Klavier im Schulhaus – in der Schulkapelle – hinunterzugehen, wo ich den Schülerinnen und Schülern das Stück aufgeführt habe. Danach sind wir für weitere Übungen zum Rezitieren in der Schulkapelle geblieben. Wir sind im Kreis gelaufen und haben das Lesen von Zitaten mit Bezug zu Fluxus einstudiert, um diese anschliessend auf zwei Gruppen aufgeteilt, welche einander gegenübersassen, vorzutragen. Die Kapelle war der perfekte Ort hierfür, da der Bau Klänge auf besondere Weise aufnimmt und wiedergibt. Fluxus hat die Kunst als etwas Gesellschaftliches definiert und die Mitglieder dieser Gruppe haben sich unter anderem mit Happenings, einmalige Ereignisse, bei welchen gegebene Umstände und zufällige Improvisation eine Rolle gespielt haben, befasst. Um die SchülerInnen für diese Art von Perspektiven zu öffnen, fand ich es erforderlich, dass sie selbst etwas Ähnliches kreieren. In diesem Kapitel der Kunst – die Anfänge und der Werdegang der Performance – steht das Erleben im Zentrum. Auch als wir Cut Piece durchgenommen haben, hat die 10-Minütige Aufnahme, die wir angeschaut haben, eine Art Erleben aktiviert.
Nach den Herbstferien und der Abgabe der Kunstwerkanalyse ist die selbstständige Arbeit der SuS in den Fokus gerückt. Performance-Entwürfe und Proben konnten im Unterricht durchgeführt werden und ausgehend von der eigenen Biografie, hatten die SuS die Aufgabe eine genaue Fragestellung für ihr Projekt zu finden. Parallel dazu haben sie auch den Auftrag gehabt, sich im Rahmen eines Mini-Objektstudiums mit dem/den Objekt/en bewusster auseinanderzusetzen. Einen ersten Höhepunkt hat dann das Aufnehmen der Performances dargestellt, die letzten drei Einheiten wurden schliesslich für den Wiederaufbau und das Präsentieren der Projekte genutzt. Diese Phase wurde durch ein Video vom Schmelzen der Zarenkrone durch Joseph Beuys im Rahmen des Projektes 7000 Eichen eingeführt. Im Vorfeld hatten wir den Begriff des Wiederaufbaus bzw. der Rekonstruktion erkundet und die einzelnen Positionen gesammelt. Nach dem Video gab es eine kurze aber gute Diskussion über das Potential dieses Prozesses und der symbolischen Aussage eines solchen Vorgehens. Am 15.12.2020 war dann unsere letzte Stunde, in welcher jeder Schüler und jede Schülerin das eigene Projekt präsentiert hat.
Reflexion
Spätestens zu diesem Zeitpunkt (am 15.12.) wurde ich mir über die Wandlung, die wir durchgemacht hatten, bewusst. Am ersten Tag als ich in die Klasse gekommen war, hatte ich Mühe, die SuS mit den Gesichtern auf dem Blatt Papier, dass ich als Übersicht erhalten hatte, zu vereinbaren. Zum Teil waren die Haare so verändert worden, dass es keinerlei Ähnlichkeit mehr gab und ausserdem haben die SuS auch Masken getragen. Am letzten Tag habe ich ganz selbstverständlich jeden beim Namen rufen können, da ich sie nun einfach kannte.
Eine sehr grosse Herausforderung hat in diesem Praktikum das Beurteilen dargestellt. Die Themen, die sich die Schüler ausgesucht haben, waren sehr verschieden. Ein allgemeiner Interessenspunkt war das Erwachsenwerden, das aber aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert wurde: Die Rolle der Autorität und Verantwortungsübernahme, der Verlust kindlicher Ideale, die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe, das die Eltern einem mitgegeben haben und das Umgehen mit immer unvorhersehbarer und grösser werdenden Herausforderungen wurden thematisiert. Darüber hinaus haben einzelne SchülerInnen auch persönliche Themen wie die Gefangenschaft im Teufelskreis der Sucht, die Sorge um die Umwelt, der Wunsch nach Leben, Kindheitserinnerungen und die Zerstörung an sich behandelt. Durch die Reflexionen wurde die Aussage jeder Arbeit sehr klar ausgedrückt und mit solchen Inhalten hatten diese Aussage schnell einen sehr starken Impakt auf mich als Leserin. Viele Reflexionen haben sehr dunkel angefangen und mittendrin habe ich immer grosse Sorge darüber gehabt, was ich da eigentlich initiiert hatte… Doch geendet haben die Arbeiten mit positiven Aussagen und irgendwie auch mit mehr Klarheit über einem Selbst. Um mich der Beurteilung dieser Arbeiten jedoch gewachsen zu fühlen und auch um die Reflexionen besser einschätzen zu können, habe ich dann eine eigene Reflexion geschrieben über den eigenen Prozess, den ich während des Praktikums gemacht hatte. Auch ich hatte nämlich während dieses Praktikums etwas zerstört und wiederaufgebaut. Das Resultat war ähnlich schockierend und vehement, wie die Reflexionen der Schüler und ich hatte dann viel mehr Sicherheit beim Evaluieren der Arbeiten. Die im Vorfeld mit den SuS vereinbarten Kriterien waren dabei eine grosse Stütze und haben das Projekt gut beurteilbar gemacht. Nichtsdestotrotz bin ich mehr denn je zuvor der Meinung, dass numerische Noten nicht für die Evaluation solcher Projekte geeignet sind. Obwohl die Noten mit einem Notendurchschnitt von 5.0 durchaus gut ausgefallen sind, habe ich auch gegenüber den SuS meine Position mitgeteilt, dass es nicht möglich sei, eine solche Arbeit auf eine Zahl zu reduzieren. Zusätzlich zu den schriftlichen und individuellen Feedbacks habe ich ihnen eine kleine analoge Photographie auf Solarpapier gegeben… als Symbol der Wertschätzung und Achtung vor ihnen als gesamte Person.
Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit dem, wie das Projekt abgelaufen ist. Es hat mir eine Ebene eröffnet, die ich nicht im Schulkontext geahnt hatte. Einen Verbesserungspunkt bezogen auf die Didaktik möchte ich hier noch anführen: Ich hätte gerne die kunsthistorischen Inhalte noch gebündelt und die SuS ihre Kunstwerkanalysen durch Kurzpräsentationen, den anderen mitteilen lassen… das hätte, denke ich, die Begriffsklärung der Performance um einiges erleichtert.
Mit Sicherheit kann aber gesagt werden, dass meinen 20 Schülerinnen und Schülern die Performance nun ein Begriff ist. (:
Als weiterführendes Projekt hätte ich gerne den Umgang mit Bildern im Rahmen einer Prozessdokumentation thematisiert. Es gab einen sehr frappanten Unterschied zwischen dem Umgang mit Worten und dem mit Bilder bei den SuS. Bis auf wenigen Ausnahmen waren sie alle sprachlich viel gewandter als im Umgang mit Bildern. Auch weil ich in der letzten Stunde das analoge Verfahren der Photographie mit Solarpapier vermittelt habe, konnte ich spüren, dass die Entwicklung, Bedeutung und Geschichte der Fotographie – und damit implizit der kulturelle Kontext von Bildern – eine sehr gute, fortsetzende Spur gewesen wäre, für welche es bei den SuS grosses Interesse gab. Kunsthistorisch wäre dies aus meiner Sicht ebenfalls sinnvoll gewesen, da der mediale Fortschritt, welcher mit der Geschichte der Fotographie eng verbunden ist, prominent die Strömungen zeitgenössischer Kunstformen beeinflusst hat – und sich mit der Robotertechnik (AI) und der virtuellen Realität auch ganz aktuell auf die Kunst(-geschichte) auswirkt.
Einige Eindrücke aus den Arbeiten der Schülerinnen und Schüler
Essen als Zerstörung:
Vorher:
Zerstörung:
Wiederaufbau:
Vorher:
Zerstörung:
Wiederaufbau:
Kamerainstallation und ursprüngliche Form des Schweinchens
Zerstörung:
Wiederaufbau:
Zerstörung:
Wiederaufbau:
Im Kampf gegen unsichtbare Hindernisse:
«Espérance de vie/ Hoffnung des Lebens»:
Anhang: