Wie positionieren wir uns in einer diversen Gesellschaft? Wie arbeiten und leben wir miteinander? Der Workshop zur Ausstellung «Geschlecht» im Stapferhaus in Lenzburg lässt eigene Vorurteile erkennen und öffnet neue Handlungsspielräumen.
Sach- und Begründungsanalyse
Die Ausstellung «Geschlecht» startet mit einem Film, der aufzeigt, dass Frau und Mann die beiden Pole einer ganzen Bandbreite von möglichen biologischen und sozialen Geschlechter sind. Dieser Fakt wird sogleich durch die in unserer Gesellschaft vorherrschende Heteronormativität aufgebrochen. Die Besucher*innen müssen sich entscheiden: Starten sie die Ausstellung im blauen Raum, der gefüllt ist mit blauen Spielzeugen/Artikel für «Knaben», oder im pinken Raum, der gefüllt ist mit pinken Spielzeugen/Artikeln für «Mädchen».
Von klein auf wird diese heteronormative Box in die Hand gedrückt und damit mehr oder weniger intensiv unser soziales Geschlecht aufgezwungen. Der Workshop greift dieses Boxing auf und in dieses ein. Denn dieses Boxing passiert in unserer Gesellschaft nicht nur in Bezug auf Geschlecht, sondern auch in Bezug auf Klasse, race und Körper, die wiederum in diverse Kategorien aufteilbar sind. Diese Kategorisierung begründet auf Ideologien, die unter anderem durch den Kapitalismus und dem damit einhergehenden Kolonialismus verstärkt wurden. Auf diesen Ideologien sind Institutionen aufgebaut, die strukturell Ungleichheit und Diskriminierung. Wiederum haben Ideologien und Institutionen eine Auswirkung auf zwischenmenschliches und internalisiertes Verhalten. Diese Ungleichheit auf diesen vier Ebenen führen zu Privilegien für Menschen, je näher sie der “Norm” sind auf der einen und zu Diskriminierungen für Menschen je mehr sie als “Anders – von der Norm abweichend” markiert werden auf der anderen Seite. Sowohl Privilegien als auch Diskriminierungen sind teils ganz offensichtlich, oft aber nur subtil oder versteckt.
Uns interessierte es, durch den Workshop eine Versuchsanordnung zu gestalten, in der die Teilnehmenden sich auf Gefühlsebene mit diesen Boxen-Thematiken (markiert sein / «Norm» zu sein, mit privilegiert sein / diskriminiert sein) handfest und spielerisch auseinandersetzen. Und im Idealfall erkennen können, dass Privileg auch immer eine Abgrenzung, Ausgrenzung zur Folge hat. Die unser Mitgefühl mit dem Anderen im Aussen, wie aber auch im eigenen Inneren vereitelt und uns in unsere eigenen Vielfalt und im Menschsein beschneidet.
Bewusst haben wir einen Ansatz gewählt, der konfrontativ und verunsichernd sein kann. Ein Ansatz, bei dem es jedoch insbesondere darum geht, reflektierend dialektisch zusammen auf dem Weg zu sein. Damit sollen die Teilnehmenden ermutigt werden sich bewusster mit den eigenen Boxen und Boxen, die mensch über andere hat auseinander zu setzen.
Ablauf
Wir beginnen mit einer Vorstellungsrunde: Welcher Hintergrund habe ich? Wo liegen meine Erfahrungen/Interessen am Thema Vorurteile und Vielfalt? Wie werde ich gelesen? Wie möchte ich und angesprochen werden (Pronomen)? Es folgt eine kurze Klärung unsers Vielfalts- und Workshopverständnisses.
Mit einer Atemübung werden die Sinne konzentriert und wir kommen im Raum an. Wir wärmen den Körper auf und starten mit einer Bewegungssequenz zur Musik: Sucht euch einen Gegenstand aus (Besen, Messer, Seidentücher) und bewegt euch zur Melodie erst zum Motiv Prinzessin, dann zu: Held. Die Erfahrungen schreibt oder zeichnet jede Person für sich auf. Die Reflexionen werden in Kleingruppen ausgetauscht und wieder ins Plenum gebracht.
Wie schnell wir mit Bildern und Zuweisungen konfrontiert sind, wurde durch die Übung schon deutlich. Was das aber für die Sichtbarkeit und die Vielfalt bedeutet, kann beim Promiquiz erlebt werden. Es gibt fünf Kategorien. Innert einer Minute werden pro Kategorie fünf prominente Menschen jeweils unterschiedlich zusammen gesetzten Merkmalen gesucht: weiss, BIPOC, cis, Mann, Frau, Heterosexuell, Homosexuell, Trans / queer / non binär, disabled body. Weitere Kategorienpaare werden in der Gruppe zusammengetragen: bspw. Inländer*in, Ausländer*in; geduldet, illegalisiert; gebildet, ungebildet; straight size, of size; neurotypisch, neurodivers; etc.
Die folgende Übung arbeitet mit Holzlatten, die zu zwei sich gegenüberliegenden Rechtecken am Boden ausgelegt werden. Die Holzlatten haben eine helle und eine dunkle Seite und erlauben so mit der Sichtbarkeit, der Markierung der Boxen zu spielen. Die Boxen werden mit den Gegenüberstellungen z.B. Mann & Frau betitelt.
Jede Person holt sich das Material für seine Box, legt es aus und stellt sich hinein. Wir sprechen nur in den Boxen, wo wir uns selbst zuordnen, gelesen werden oder eine Stufe privilegierter. Wie fühlt sich das an, in diesen Kasten zu steigen? Sich markiert und hierarchisiert gegenüberzustehen? Und wie, ists, wenn der eine Kasten hell, der andere dunkel ist (und damit mehr oder weniger stark markiert wird)? Wir gehen mit dem kategorisiert werden und dem Material (Box) in Kontakt und experimentieren: Box öffnen, Hölzer umdrehen, auseinanderschieben, zusammenlegen. Eigene Empfindungen und Beobachtungen werden ausgesprochen, dem Gegenüber Fragen gestellt und zugehört, Veränderungen erprobt.
Ein Theoretischer Input zu den vier Ebenen von Diskriminierung (ideologisch, institutionell, interpersonell, internalisierend) verdeutlicht, was uns an Erfahrungen entgegenkommt.
In der Schlussreflexion wird mit persönlichen und anschaulichen Beispielen das unfreiwillige Markiertsein verdeutlicht und der Bogen geschlagen zum vergifteten Privilegien-Kuchen, der die eigene Vielfalt beschneidet.
Reflexion
Für Privilegierte als auch für Diskriminierte ist es ein Prozess sich der Tragweite des Themas bewusst zu werden, mit den aufkommenden Gefühlen in Bezug auf das Ungleichgewicht einen Umgang zu finden und schlussendlich beginnen für Veränderung auf allen Ebenen einzutreten.
Zu Sensibilisierung in Bezug auf Diskriminierung gibt es im Vergleich zur Tragweite der Thematik kaum Pflichtinhalt und wenig Bewusstsein in der Schule, wenig Literatur und kaum Studien (insbesondere auch nicht auf Deutsch und wenn, dann oft zu wenig beachtete). Black Lives Matter, die Frauenstreik, die Klimagerechtigkeitsbewegung und die Jahrzehnte langen Kämpfe von Aktivist*innen haben einen ersten Diskurs entfachen können. Viele Zugänge sind auf intellektueller Ebene. Zur gesamtheitlichen Integration des Themas war es uns wichtig auch Zugänge übers Empfinden mit einzubeziehen. So haben wir für die Workshopentwicklung in der Sauna und mit Selbstversuchen gestartet.
Der Workshop funktioniert viel über die sprachliche Interaktion und auch zusammenführende, erklärende und reflektierenden Elemente passieren vermehrt über die sprachliche Ebene. Was zu einer Benachteiligung in der Teilhabe führen kann.
Es braucht zudem hohe Sensibilität und Gespür von der Workshopleitung in Bezug auf die Sicherheit von Teilnehmenden mit Diskriminierungserfahrungen vor Aussagen / Handlungen von Privilegierten. Wie zum Beispiel ein erzwungenes Outing sollte unbedingt vermieden werden und diskriminierende Aussagen, dürfen nicht im Raum stehen gelassen werden, sondern sollten in einen Kontext eingeordnet werden.
Ein Anliegen des Workshops ist es, dass kein «Expert*innenwissen» auf den Feldern Gender, Diskriminierung, Antirassismus vorausgesetzt ist, um am Workshop teilzunehmen oder sich einzubringen. Im Gegenteil, es ist uns ein Anliegen vom distanzierten Expert*innentum hin zu einer reflexiven Auseinandersetzung, mit dem persönlichen Empfinden zu kommen.
Das Format kann dadurch und unterstützt durch den spielerischen Ansatz mit Material auch auf schulischer Ebene zum Einsatz kommen. Die selbstreflexiven Momente müssten je nach Altersstufe angepasst, der Fokus auf die Materialerfahrung verlagert werden und mit noch einmal mehr Feingefühl in Bezug auf Teilnehmende mit Diskriminierungserfahrungen.
Links
Ein Praktikum von Lene Carl und Christian Fischer bei Tzegha Kibrom: https://www.tzeghakibrom.com/
Zur Ausstellung «Geschlecht» im Stapferhaus: https://stapferhaus.ch/geschlecht/
Mehrebenen der Intersektionalität: https://tubdok.tub.tuhh.de/bitstream/11420/384/1/Intersektionalitaet_Mehrebenen.pdf