Abstract
In dem Projekt wurde der Frage nachgegangen, was Alltag ist und wie wir ihn sichtbar machen können. Das Ziel war es, die SuS an das Notiz-/Tage-/Skizzenbuch als künstlerische Strategie heranzuführen und ihr Kunstverständnis zu erweitern. Im Laufe des Projektes drängte sich die Frage nach den perspektivischen Darstellungsmöglichkeiten auf. Der Frage wurde im zweiten Teil des Projektes nachgegangen.
Begründungs- und Sachanalyse
In der Zeitgenössischen Kunst verschwimmen Grenzen der Disziplinen. Methoden aus anderen Fachgebieten werden auch in der Kunst erprobt und umgekehrt. So kann Forschung sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich betrieben werden. Ich wollte den Kunsthorizont der SuS erweitern und sie an das Beforschen und Hinterfragen von Selbstverständlichem als Qualität der Kunst heranführen. Alltag ist sowohl ein aktuelles Thema in der Kunst, als auch eine Brücke zwischen SuS und Schule. Das Projekt sollte erlebbar machen, dass eigene Erfahrungen durch gestalterische Dokumentation zu Kunst und Kunst-Material werden können.
ALLTAG:
Alltag, ist uns ein sehr geläufiges Wort, aber was bedeutet es eigentlich? Der Duden definiert Alltag wie folgt: tägliches Einerlei, gleichförmiger Ablauf im (Arbeits-) Leben, Werktag und Arbeitstag. Johnstone, Herausgeber der ReiheDocuments of Contemporary Artnähert sich dem Begriff in dem Buch The Everydayvon einer ganz anderen Seite: „(…) The everyday (…) exists below the threshold of the noticed and is everywhere and nowhere at the same time.“(…) „For the everyday, as Levebvre goes on to tell us, is what is ‚left over’ when specialized knowledge has been exhausted.“(…)„If the everyday is the realm of the unnoticed and the overlooked, however, it might be asked just how we can attend to it? How do we drag the everyday into view?“(JOHNSTONE 2008 S.13-21) Zahlreiche Künstler haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Als Beispiel habe ich die Arbeiten von Kateřina Šeda ‚There is Nothing There’ und das Werk ‚Eine Ansammlung von Gegenständen’ von Fischli/Weiss vorgestellt.
NOTIZBUCH:
Zu dem Projekt haben mich meine eigenen Notizbüchlein inspiriert. Seit mehreren Jahren sammle ich in A6 grossen Heftchen Gedanken, Projektideen, ToDo’s, Skizzen. Es sind kleine Archive von Gesehenem, Gehörtem, Erinnertem; ein Stück konservierter Alltag.
Ich wollte den SuS das Notizbüchlein als Archiv, Reflexions- und Fantasieraum zugänglich machen und mit ihnen ähnliche Arbeiten kreieren. Das Notiz-Skizzen-Tagebuch erachte ich als wichtiges künstlerisches Werkzeug, dass von den SuS auch ausserhalb des Unterrichtes genutzt werden kann.Inspiration für die Notizbucharbeit war unter anderem die Autorin Keri Smith mit ihren Büchern „Mach dieses Buch Fertig“ oder „Mein wildes Buch“.
Aufbau
Die SuS haben zu Beginn Alltag in Begriffe definiert, die sie dann zeichnerisch umgesetzt haben. Es wurde sichtbar, dass Alltag von Gemeinsamkeiten als auch Individualitäten geprägt ist. In den folgenden Lektionen habe ich die von mir gefundenen Definitionen von Alltag vorgestellt und so das Diskussionsfeld in Richtung Kunst erweitert. Wir haben über Normalität und Wiederholung, über Sichtbarkeit und Übersehenes, über Wahrnehmung und Wirklichkeit gesprochen. Es wurden Fischli/Weiss und Kateřina Šeda und ihre Arbeiten zum Thema Alltag, Normalität und Sichtbarkeit vorgestellt. Die theoretischen Inputs waren Anregung um danach in die praktische Auseinandersetzung zu gehen. Hierfür haben wir verschiedene Methoden des Forschens und Dokumentierens erprobt. Zum Beispiel haben die SuS über eine Woche hinweg ihr Frühstück dokumentiert oder geübt einen alltäglichen Gegenstände so zu betrachten, wie wir ihn normalerweise nicht betrachten und alles Beobachtete zeichnerisch und schriftlich festzuhalten.
Dabei kam bei den SuS die Frage auf, wie ein Gegenstand perspektivisch stimmig gezeichnet werden kann. Wir haben beschlossen dieser Frage nachzugehen und den zweiten Teil des Projektes perspektivischer Konstruktion zu widmen.
Das Notizbüchlein wurde Zuhause fortgeführt. Die Aufgabe war, mit dem bisher Gelernten 24-Stunden des eigenen Alltages zu dokumentieren. In der Dokumentation sollte ein Schwerpunkt gesetzt werden, den sie detaillierter ausarbeiten. Für den Schwerpunkt standen die von ihnen genannten Alltagsaspekte wie: Freunde, Sport, Hobby, Schule, Essen, Verkehr, Schlafen zur Verfügung. Für die Aufgaben hatten die SuS zwei Wochen Zeit.
Als Orientierungsrahmen und Inspiration für diese Arbeit habe ich unter anderem ein Zitat von Martina Läubli (Redaktionsleiterin von „Bücher am Sonntag“) vorgestellt. Läubli überlegt sich, welches Buch sie mitnehmen würde, wenn sie flüchten müsste und nur ein Buch einpacken könnte. Und sie schreibt: „Diese Frage kam mir in den Sinn, als ich kürzlich den Roman von Usama Al Shahmani las. Als der Schriftsteller vor Saddam Husseins Geheimdienst in die Schweiz floh, hatte er ein Buch im Gepäck. Es war sein eigenes. Auf der Flucht diente es Al Shahmani als Pass, ein anderes Dokument hatte er nicht. Diese Geschichte regte mich zu einem weiteren Gedankenspiel an: Wie würde die Welt aussehen, wenn wir statt eines Passes ein Buch vorweisen müssten, um eine Grenze zu überqueren?“ (Bücher am Sonntag, 9.Dez 18) Die Notizbüchlein der SuS sollten zu solchen Büchern werden, die erzählen wer sie sind und Charakteristiken aus ihrem Alltag zeigen.
Um in das Thema der Perspektive einzusteigen habe ich einen kurzen historischen Abriss über die Geschichte der Zentralperspektive gegeben und dann die SuS die Dürrer-Scheibe im Schulhaus erproben lassen. An den entstandenen Zeichnungen haben wir die Zentral- und Zweipunkt-Perspektive beobachtet und eigene Räume nach diesen Gesetzen konstruiert. Als abschliessende Arbeit wurden wieder die alltäglichen Gegenstände aufgegriffen, die sie in den ersten Stunden genauestens untersucht hatten. Die Aufgabe war, diese Gegenstände in die konstruierten Räume zu setzen und surreale Welten zu komponieren. Als Anregung wurde Magritte gezeigt.
Bewertung
Bewertet wurde von mir die selbständig verfolgte Arbeit, 24 Stunden des eigenen Alltages zu dokumentieren. Die Bewertung gliedert sich in vier Kategorien. Jede Kategorie wurde visuell und schriftlich kommentiert. Das Gesamtergebnis habe ich am Ende in einer Note zusammengefasst.
Ich stelle den Bewertungsbogen hier zur Verfügung. Ich sehe aber noch Bedarf in der genaueren Differenzierung der Kategorien.
Reflexion
Alltag hat sich als ein sehr spannendes und weitläufiges Thema entpuppt. Es liegt Potential darin auch nur einzelne Momente dieses Projektes zu vertiefen. Das Projekt würde sich als Projektwoche gut eignen. Ich denke Alltag als Anregung kann auf jeder Altersstufe interessant sein, allerdings habe ich nun die Erfahrung gemacht, dass es eine gewisse Reife braucht sich philosophisch dem Thema zu nähern und sich für die Phänomenologie des Alltages zu interessieren. Ich habe eine 3. Gymnasiums-Klasse unterrichtet, das war etwas jung.
Es gab einzelne SuS, die sich dem Thema aber bereits voll hingeben konnten und auch eigene Ideen der gestalterischen Umsetzung verfolgt haben. Eine Schülerin ist dem Gedanken nachgegangen, dass der Alltag, das uns dauernd Umgebende und Nicht-Gesehene ist. Sie hat Orte zeichnerisch dokumentiert, die sie sonst nie bewusst betrachtet wie die Wand oder die Rückseite eines Sitzes in der Tram. Ich denke dies ist ein interessanter Ansatz und könnte für weitere Projekte Anregung sein.
LITERATUR EMPFEHLUNGEN:
HIGHMORE, Ben (2002): Everyday Life and Cultural Theory. An Interduction. London und New York: Routledge
JOHNSTONE, Stephen (2008): Documents of Contemporary Art: The Everyday. London: Whitechapel
KÄMPF-JANSEN, Helga (2002): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag. Kunst und Wissenschaft. Köln: Salon Verlag
KATEŘINA ŠEDÁ (2007) *1977 Projekt-Dokumentation ‚There is Nothing There’ Zürich: Ringier
SMITH, Keri (2013): Mein wildes Buch. München: Kunstmann