Abstract
Mein freies Praktikum absolvierte ich an der heilpädagogischen Tagesschule Roth-Haus in Teufen AR. Ich arbeitete dort über sechs Wochen täglich im Kindergarten (KiGa). Einmal pro Woche leitete ich das Werken und das Malen. Wir gestalteten jeweils etwas zu dem aktuell im Kindergarten behandelten Bilderbuch; Zuerst kreierten wir mit Ton und Engoben farbige Töpfchen wie in dem Grimm-Märchen «der süsse Brei». Folgend kleisterten wir alle gemeinsam ein grosses Ei zur Geschichte «das Osterküken», in welches die Kinder nach meinem Praktikum dann reinsitzen konnten um die Geschichte als Theater zu spielen.
Zusätzlich konnte ich punktuell weitere Erfahrungen, auch auf anderen Altersstufen, sammeln; Am Mittwochnachmittag begleitete ich jeweils einen 13-jährigen Autisten. Auch mit ihm arbeitete ich z.T. gestalterisch, meistens jedoch musikalisch. Weiter betreute ich einen Morgen lang einen beeinträchtigten Jugendlichen beim Werken, der aus der Ukraine geflüchtet war.
Sach- und Begründungsanalyse
Schule Roth-Haus Teufen
Rothhusstrasse 682
9053 TeufenHeilpädagogische Tagesschule, Schwerpunkt: Kindergarten (4-9 J.)
In meinem freien Praktikum arbeitete ich über sechs Wochen täglich im KiGa der heilpädagogischen Tagesschule Roth-Haus. Etwa sieben Jahre zuvor hatte ich dort bereits ein Jahr lang Zivildienst geleistet. Die grundlegenden Abläufe kannte ich daher bereits. In den ersten 10 Tagen wurde ich wieder eingearbeitet und lernte die Kinder, welche sich in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden, etwas kennen. Von diesem Zeitpunkt an leitete ich jeweils zwei Blöcke Werken bzw. Malen pro Woche.
Die Situation ist im Fall dieses freien Praktikums sehr speziell. Als aussenstehende Person, welche die Kinder noch nicht kennt, war es für mich im Vorhinein schwierig bis unmöglich abzuschätzen, wie ausgebildet deren Fähigkeiten und Kompetenzen sind. Deshalb erarbeitete ich das Programm in enger Zusammenarbeit mit der Praktikumslehrerin (Kindergärtnerin und Heilpädagogin) und entschied mich dann in vielen Situationen für ihre Vorschläge. Im Detail arbeitete ich unser Programm dann aber alleine aus. Ich entschied mich, jeweils zum aktuellen Bilderbuch etwas zu gestalten.
Ich leitete insgesamt sechs Mal das Werken und zwei Mal das Malen im Kindergarten. Tagesabhängig wurden 5-10 Kinder von 4-8 Erwachsenen betreut. Mehrere Kinder erfordern, vor allem in Übergangssituationen, Eins-zu-Eins-Betreuung. Da ich immer den ganzen Tag vor Ort war, hatte ich auch regelmässig ausserhalb dieser Zeitslots die Gelegenheit, spontan und situativ (auch in Eins-zu-Eins-Betreuung) gestalterische Unterrichtssituationen zu schaffen und Beobachtungen zu machen.
Die Voraussetzungen an dieser heilpädagogischen Schule sind natürlich grundlegen anders als an einem Gymnasium. Nur schon innerhalb einer Klasse variieren die Kompetenzniveaus der Kinder enorm. Mehrere der Kinder im Kindergarten müssen in beinahe allen Bewegungsabläufen geführt werden – oft in Eis-zu-Eins-Betreuung. Mir scheint diese Horizonterweiterung im freien Praktikum sehr sinnvoll. Mich faszinieren die Fragen: Was ist die heruntergebrochenste Form von Gestaltung? Wo hat sie ihren ersten Trieb? Und weiter: Wie funktioniert Gestaltungsunterricht bei Kindern, die in verschiedensten Arten eingeschränkt sind.
Alle Kinder im Roth-Haus haben eine geistige und oft auch eine körperliche Beeinträchtigung. Die meisten Kinder haben dadurch eine beschränkte Wahrnehmung, oder gerade umgekehrt; ihr Gehirn kann die vielen Eindrücke schlecht filtern (Bsp. Autismusspektrum). So haben z.B. alle Kinder an ihrem Stuhl einen Gummigurt, der sie nicht fesseln, sonder ihnen eine bessere Körperwahrnehmung ermöglichen soll. Somit ist an einer heilpädagogischen Schule das Thema der Wahrnehmungsschulung auch im Erlernen der alltäglichsten Abläufe, wie z.B. der Toilette, zentral. Dies finde ich aus der Perspektive einer BG-Lehrperson sehr interessant. Ein Kind, welches den eigenen Körper nicht richtig spürt, hat auch grundlegendste Probleme diesen (z.B. feinmotorisch) zu steuern. So wird konstant darauf geachtet, dass die Kinder möglichst viele ästhetische Wahrnehmungen machen und mit der Aufmerksamkeit bei der aktuellen (oft Eins-zu-Eins geführten) Tätigkeit sind.
Während meinem Praktikum waren im KiGa Roth-Haus nur Jungs. Mir wurde gesagt, dass dies typisch sei, denn Männer seien wegen deren X- und Y-Chromosomen anfälliger für Beeinträchtigungen als Frauen. Viele davon haben Migrationshintergrund, ein Junge kommt aus der Ukraine.
Da im KiGa stets Kinder mit Authismusspektrum sind, ist der KiGa extrem strukturiert eingerichtet; Authisten können oft schlecht mit Veränderungen umgehen und können bei uns Fortschritte machen dank der gleichbleibenden Umgebung und Rituale. So gibt es z.B. visuelle Tagespläne, Piktogramme, usw.
Lernziele und Beurteilungskriterien
Im Kindergarten des Roth-Haus gibt es keine Noten. Als Beurteilungstool werden halbjährlich Berichte über die Kinder verfasst. Das ganze KiGa-Team ist bemüht, die Kinder im Alltag zu beobachten. Diese Beobachtungen werden in einer Software gesammelt und dienen als Grundlage für die Berichte. Im Bericht wird eine Liste von Beobachtungsschwerpunkten behandelt, die eine Einschätzung der Entwicklungsstufe des Kindes ermöglichen:
- Lernen und Wissensanwendung
- Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
- Kommunikation
- Mobilität (bewegen und sich fortbewegen)
- Selbstversorgung (für sich selber sorgen)
- Häusliches Leben
- Interpersonelle Interaktion und Beziehung (Umgang mit Menschen)
- Bedeutende Lebensbereiche (Erziehung und Bildung, Vorbereitung aufs Erwachsenenleben / Beruf)
- Gemeinschaft, Soziales und Staatsbürgerliches (Leben, Freizeit, Erholung und Gemeinschaft)
- Körperfunktionen
Zusätzlich zu den Berichten werden auch halbjährlich, gemeinsam mit den Eltern, Förderziele definiert, wie z.B. «x braucht keine Windeln mehr.» oder «x macht Augenkontakt.» Bald wird sich dieses System ändern, da diese heilpädagogische Schule auch eine Form des Lehrplan 21 übernimt.
Basierend auf den Erfahrungen im KiGa und auf Gespräche mit dem Team, verfasste ich auch Lernziele für die geleiteten Unterrichtseinheiten, die ich z.T. vor der Lektion auch dem Team mitteilte. Folgend zeige ich eine Auswahl von repräsentativen Lernzielen:
- Die Kinder sind mit der Aufmerksamkeit möglichst präsent bei der gestalterischen Arbeit.
- Die Kinder machen eine ästhetische Erfahrung mit den Händen.
- Die Kinder machen eine Selbstwirksamkeitserfahrung und nehmen den Prozess der Arbeit wahr; Sie merken, dass durch ihre Mitarbeit etwas entsteht.
- Das Kind erlebt das Material Ton mit verschiedenen Sinnen und verknüpft die gemachten Erfahrungen mit dazu passenden Worten wie «weich» oder «kneten».
- Das Kind verbindet verschiedenen Ebenen eines kompelxen Begriffs, hier «Töpfli»; das gezeichnete Töpfli im Bilderbuch, das selbstgemachte aus Ton, das Piktogramm davon, das Wort «Töpfli»; und es macht einen Zusammenhang zum Essen/Kochen.
Ablauf
Als erstes kreierten wir mit Ton Töpfchen wie in dem Grimm-Märchen «der süsse Brei». Ich entschied mich für das Würstchen-Verfahren, da die Kinder beim Rollen an den Händen viel spühren können.
Folgend sieht man schön, wie es der Kindergärtnerin gelingt, die Aufmerksamkeit eines zuerst abwesenden Kindes auf seine Hände und auf den Ton zu lenken; durch ihre Führung und durch das Massieren der Hände.
Einen Grossteil der Arbeit leisteten natürlich die Erwachsenen; Bei den schwächeren Kindern geht es bei dieser Form des Gestaltungsunterrichts vor allem darum, dass die Kinder miterleben, dass durch ihre Hände etwas entstehen kann, oder z.B. die grundlegende Erfahrung, dass sie ein Blatt Papier zerteilen können.
Beim nächsten Mal malten wir die Töpfli mit farbigen Engoben an.
Die letztenen Schritte (den erste Brand, die transparente Glasur und den abschliessenden Brand) führte ich ohne die Kinder durch, denn ich gehe davon aus, dass es für die meissten Kinder eher Verwirrung gestiftet hätte, über die Engobe nun wieder eine weisse Schicht zu streichen, die dann auch gleich wieder verschwindet beim Brand.
An zwei Nachmittagen gingen wir ins Malatelier; ein fantastischer Ort um sich malerisch auszutoben! Da es gerade Neuschnee hatte, malten wir Schnee um das Verständnis von Schnee zu stärken. (Lebensweltbezug) Danach durften sie frei malen.
Folgend kleisterten wir alle gemeinsam ein grosses Ei zur Geschichte «das Osterküken». Das Küken möchte erst an Ostern schlüpfen. Die Idee ist, etwas Gemeinsames zu erschaffen, was die Kinder dann auch nutzen können; später können sie dann reinsitzen, sich ins Küken reinversetzen und die Geschichte als Theater spielen. Wir erzählen und spielen die Geschichte auf möglichst verschiedene Arten und machen sie über verschiedenen Sinne erlebbar, damit die Kinder sie möglichst gut verstehen können.
Für die Auftragserteilung musste ich zuerst passende Gebärden in der Sprache Porta recherchieren, denn im KiGa wird die Lautsprache mit Gebärden unterstützt.
Das Grundgerüst für das Ei habe ich vorbereitet. Die Idee war, dass bei dieser Arbeit differenziert werden kann; die bezüglich Feinmotorik stärksten Kinder kleistern auf dem Gitter, die Mittleren auf dem Blumentopf – und die Schwächsten reissen Papierfetzen.
Reflexion
Für mich war diese Erfahrung in einer heilpädagogischen Schule sehr wertvoll – und auch empfehlenswert. Besonders intensiv muss an dieser Schule die Differenzierung/individuelles Fördern stattfinden, was mir aus meiner Ansicht in diesem Fall auch gut gelungen ist. Ich war überrascht, wie schnell ich die Kinder kennengelernt hatte und deren besonderen Bedürfnisse beachten konnte; Nach sechs Wochen wusste ich genau, bei welchem Kind ich welche Art von Hilfestellung anbieten muss – in jeglichen alltäglichen Situationen wie Toilettengang, Umziehen bei Ankunft und Schluss, im Freispiel, beim Kochen, beim Basteln, beim Turnen, etc. Das Kind soll möglichst viel selbst machen und gleichzeitig in schwierigen Situationen (wie z.B. die Jacke an den Haken hängen) aber nicht überfordert werden, damit es nicht frustriert aufgibt. (Wo bei einem Kind eine mündliche Aufforderung reicht, braucht ein anderes Kind einen kleinen Anstuppser – und noch ein anderes eine physische Führung, damit es die Jacke aufhängen kann.)
Ich sehe neben der individuellen Förderung noch viele Transfermöglichkeiten auf die Gymnasialstufe; Der Lebensweltbezug im Kindergarten war oft vorbildlich gross, so kann mit der Geschichte (Bilderbuch), die uns fast täglich begleitet, Motivation geweckt werden und Verbindungen geschaffen werden, wie z.B. «Wir kochen Apfelbrei wie im Märchen.» So lernen die Kinder z.B. unbekanntes Essen zu probieren, was gerade bei z.T. sehr sturen Kindern mit Authismus oder Trisomie 21 für die spätere Lebensbestreitung sehr wertvoll sein kann.
Das Projekt mit dem Ei erscheint mir im Nachhinein sehr rund; Wir erschaffen gemeinsam etwas, das wir später auch nutzen. Das Ei ist also absolut sinnvoll und notwendig. Gleichzeitig ist es ein Projekt, das durch dieses verbindende Element ein Gruppengefühl auslösen kann.
Ich versuchte jeweils die Kinder vor dem Werken im Kreis möglichst gut abzuholen; einerseits hilft es vielen der Kinder, wenn sie bereits durch die Sprache und durch den Tagesplan auf eine folgende Situation vorbereitet werden. Andererseits versuchte ich über die Geschichte und die vorbereitete Umgebung einen fliessenden, selbstverständlichen Übergang ins Werken zu schaffen.
Wie erwähnt, ist es in vielen Situationen gar nicht so wichtig, dass das Kind eine Arbeit alleine durchführt. Nur schon die Erfahrung durch die Beobachtung und die Sinneseindrücke der Hände sind wertvoll. Dies wurde mir bewusst als mir ein 12-jähriger Junge im Rollstuhl, der seine Hände beinahe gar nicht bewegen kann, stolz sein Etui zeigte und sagte: «Das hani selber gmacht!» So konnte er trotz seiner Situation durch eine gelungene gestalterische Arbeit ein Erfolgserlebnis feieern, welches sein Selbstwertgefühl stärkt.
Somit war das Praktikum ein meiner Einschätzung gelungen. Für die Zukunft liesse sich überlegen, ob auch integrative Projekte möglich sein könnten. Gerade an einer heilpädagogischen Schule ist es ein grosses Thema, Integrationsprojekte zu machen, auch um das Verständnis und die Akzeptanz für Menschen mit Beeinträchtigung in der breiteren Gesellschaft zu stärken.