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Das Brückenangebot des Campus Muristalden Bern ermöglicht es den Lerndenden, ein 10. Schuljahr mit Anschluss am Gymnasium zu absolvieren. Die Lernenden haben dabei unterschiedliche Ziele. Einige werden nach dem Abschluss weiter das Gymnasium besuchen und andere eine weiterführende Mittelschule oder eine Lehre beginnen. Dabei bringen die Schüler_innen unterschiedliche schulische Voraussetzungen mit und haben in den Klassen verschiedene Jahrgänge.
Um der Heterogenität der Schüler_innen des Brückenangebotes im Unterrichtsvorhaben zu entsprechen, werden Projekte angeboten, welche unterschiedliche, jedoch zentrale Grundlagen des Bildnerischen Gestaltens beinhalten. Die Diversität in den Aufgabenstellungen soll es den Lernenden ermöglichen, sich entsprechend ihrer Fähigkeiten diese anzueignen oder auch zu repetieren. So werden Grundlagen geschaffen, welche die Schüler_innen befähigen, den verschiedenen Anforderungen eines Gymnasiums, eines gestalterischen Vorkurses oder beispielsweise einer Hochbauzeichnerlehre gerecht zu werden.
Sach-und Begründungsanalyse
Der Fokus des Unterrichtsprojektes liegt auf der räumlichen Wahrnehmung und deren zeichnerischen Wiedergabe. Da bei der Heterogenität der Schüler_innen davon ausgegangen werden muss, dass viele kaum oder sehr negative Erfahrungen im Bildnerischen Gestalten mitbringen, dient zur Erarbeitung der Grundlagen das Buch „Garantiert zeichnen lernen“ der Kunstpädagogin Betty Edwards. Bestimmte Thematiken aus dem Buch werden aufgegriffen und mit den Übungen sowie der benoteten Aufgabenstellung verbunden.
Dieses Buch beschäftigt sich u. a. mit der Frage, warum es der Mehrzahl der Schüler_innen schwer fällt, zeichnen zu lernen, während es einigen wenigen leicht fällt. Edwards geht davon aus, dass im Kindesalter alle zeichnen können aber dennoch nur wenige im späteren Alter mühelos zwischen dem bildlichen R-Modus (rechte Gehirnhälfte) und dem für das Sprechen und Schreiben wichtigen L-Modus ihres Gehirns umschalten können. Ab einem gewissen Alter verlieren die meisten die Fähigkeit dieses „Zurückschaltens“. Das Buch besteht aus Zeichenübungen, welche in erster Linie aus Übungen besteht, welche das Gehirn zwingen, im R-Modus zu arbeiten. (vgl. Edwards (2015)) 1
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In diesem Projekt werden diese klassischen Übungen neu kombiniert und verknüpft, woraus ein benotetes Endprodukt entsteht. Ziel ist es, eine Kombination an Übungen anzubieten, welche die Lernenden ermutigt, ihre zeichnerischen Fähigkeiten teils neu zu entdecken und zu stärken, sowie zu verhindern, dass eine Resignation gegenüber den Anforderungen des Zeichnens und der räumlichen Vorstellung eintritt.
Zum räumlichen Vorstellungsvermögen gehört das genaue und aufmerksame Betrachten. Um dieses zu stärken und verschiedene Übungen in kurzer Zeit aufgreifen zu können, zeichnen und malen die Schüler_innen in diesem Projekt teilweise auf Gläsern.
Ablauf
Erfolgserlebnisse werden bei den Schüler_innen dadurch erreicht, dass ihre Zeichnungen den eigenen Ansprüchen der Wiedergabe der Realität genügen. Um dem gerecht zu werden, müssen sich die Schüler_innen jedoch zunächst klar sein, wie diese Realität aussieht. Demzufolge ist das genaue Hinsehen und Beobachten zentral.
Zu Beginn wird das genaue Beobachten beispielsweise anhand eines Postenlaufs mit mehreren Blick-Hindernissen oder Erschwerungen geschult. Die Schüler_innen sollen lernen, formgenau zu zeichnenund wirklich zu zeichnen, was vor ihnen liegt. Dabei soll geübt werden, dem Model oder Objekt keinen Inhalt, sondern nur eine Form zuzusprechen, daher der Titel des Unterrichtprojektes.
Um diese Form festzuhalten, ist das lineare Zeichnen sowie das Zeichnen von Silhouette/Kontur grundlegend. In den Postenläufen und Einstiegsübungen wird dieses lineare Erfassen hauptsächlich anhand des menschlichen Körpers geübt. Hierbei folgt das Denken in Flächen (Positiv- Negativräume) sowie dem räumlich- perspektivischen Aufbau.
Das Transparentpapier A3 wird aufgeklappt und auf der leeren Seite wird die Linie
mit Bleistift spiegelverkehrt abgezeichnet.
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In Inputs wird den Schüler_innen die geschichtliche Entstehung der Zentralperspektive sowie deren Herleitung vermittelt. In den Übungen wird anhand der Gläser das komplexe Thema dadurch vereinfacht, dass die Augenhöhe der zeichnenden Person dem Horizont der Zeichnung (Abbildung) entspricht.
Beispiel Zentralperspektive auf Glas 24 x 30 cm
Auf dem perspektivischen Zeichnen aufbauend, wird das Wiedergeben von Grössenverhältnissen geübt. Um dies zu festigen, folgt die genaue Wiedergabe und Inszenierung von mehreren kleineren Objekten auf einem Bild.
Schlussendlich wird das Thema des Endproduktes mit dem geübten verknüpft: die Schüler_innen stellen die Form eins von Ihnen mitgebrachten Objektes formgenau auf Glas mit Acrylfarbe dar.
Für das benotete Endprodukt, wird die Form eines Objektes linear auf eine Glasplatte (13 x 18 cm) übertragen und der Positivraum mit schwarzer Acrylfarbe ausgefüllt. Mit demselben Objekt passiert etwas! Auf einer zweiten, grösseren Glasplatte (24 x 30 cm) wird dasselbe Objekt anders inszeniert. Wobei es umgefallen oder kaputt gegangen sein kann, von einem anderen Objekt erdrückt wird oder sich versteckt. Die Komposition wird auf die Glasplatte übertragen und der Negativraum mit schwarzer Acrylfarbe ausgefüllt.
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Beurteilung
Für das bewertete Endprodukt gelten folgende Kriterien (links), diese stehen mit den erarbeiteten Inhalten (rechts) im Zusammenhang:
• Präzise und sorgfältige Arbeitsweise
• Korrekte räumlich- perspektivische Darstellung
• Formgenauigkeit
• Realistische Proportionen und Grössenverhältnisse
• Herausfordernde Gesamtkomposition
• Zeichnerische- und malerische Qualität
• Lineares Zeichnen
• Positiv- und Negativraum
• „Genaues Hinsehen, ohne zu interpretieren“
• Räumlich- perspektivisches Zeichnen: Zentralperspektive
• Grössenverhältnisse
• Inszenierung von Objekten
Reflexion
Die Unterschiede in den Voraussetzungen, welche die Schüler_innen in der Klasse mitbrachten, waren enorm. Trotz den vielen unterschiedlichen Übungen oder vielleicht gerade deswegen, machte die Klasse engagiert mit. In der Reflexion der Erfahrung stellt sich die Frage, ob z. B. bei der Einführung der Zentralperspektive oder der Grössenverhältnisse, die Schüler_innen, die damit Mühe hatten, mit weniger Übungen einen besseren Zugang dazu gefunden hätten. Bei einem nächsten Projekt würde ich mir hier vornehmen, bei der Anleitung zu diesen Themen mehr Zeit zu investieren und teils noch präziser zu sein, auch wenn ich bereits versuchte, die Thematik auf ihre Essenz zu reduzieren. Dennoch fand ich meine Vorgehensweise bestätigt, da nahezu alle Schüler_innen grundlegende zeichnerische Fortschritte machten. Die wiederholten Aufforderungen, genau hinzuschauen und nichts Anderes zu erfinden oder damit zu kombinieren, schienen ihre Wirkung gezeigt zu haben. So waren die Sichteinschränkungen bei den Einstiegsübungen ein gutes Mittel, um den Schüler_innen verständlich zu machen, welches Ziel sie verfolgen sollten. Damit waren sie auch physisch gezwungen, sich zu konzentrieren und ihren Blick zu schärfen.
Da Dreiviertel des Projektes aus rein zeichnerischen Grundlagenübungen bestand, war es wichtig, zum Abschluss die Hinterglasmalerei mit ihren reizvollen Effekten anzubieten, damit die Schüler_innen ein gelungenes Endprodukt mit nach Hause nehmen konnten und eine mögliche Erweiterung aufgezeigt wurde.
Folgeprojekt
Da sich das Endprodukt des Projektes auf die Wiedergabe von Objekten in Positiv- und Negativräumen konzentriert hatte, wäre eine Möglichkeit der Weiterentwicklung, die noch ausstehende plastische Darstellung, z. B. durch ein Objektstudium, bei dem Licht, Schattenwürfe und Farbigkeit von Objekten im Fokus stehen.
Dies könnte auch die Farbenlehre mit Fokus auf Farbkontraste (nach Itten) beinhalten. Ein gewähltes Objekt würde z. B. anhand des Warm-Kalt-Kontrastes, des Komplementärkontrastes, des Qualitätskontrastes oder des Farbe-an-sich-Kontrastes unter der Anforderung der plastischen Wirkung hinter Glas gemalt. Das Objekt könnte ähnlich, wie in den beiden Beispielen von Daniel Karrer, inszeniert und dargestellt werden.
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Quellen
1 Edwards, Betty (2020, 21. Dezember): Edwards, Betty (2015): Garantiert zeichnen lernen. https://fdokument.com/document/betty-edwards-garantiert-zeichnen-lernen.html [21.12.2020]
2 Cimabue (2020, 12. Dezember): Cimabue Thronende Madonna. https://de.wikipedia.org/wiki/Thronende_Madonna_(Cimabue) [12.12.2020]
3 Duccio di Buoninsegna (2020, 12. Dezember): Madonna Rucellai. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Duccio_-_Maest%C3%A0_-_Google_Art_Project.jpg [12.12.2020]
4 Giotto Madonna (2020, 12. Dezember): Madonna di Ognissanti. https://it.wikipedia.org/wiki/Maest%C3%A0_di_Ognissanti#/media/File:GiottoMadonna.jpg [12.12.2020]
5 Giotto die Bondone (2020,18. Dezember): Die Verkündigung an die heilige Anna. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Giotto_di_Bondone_-_No._3_Scenes_from_the_Life_of_Joachim_-_3._Annunciation_to_St_Anne_-_WGA09171.jpg [18.12.2020]
6 Karrer, Daniel (2020,18. Dezember): Works 2020. https://danielkarrer.ch/works/2020 [18.12.2020]
7 Sieben Farbkontraste nach Johannes Itten (2020, 18. Dezember): Farbe-Medien Wiki. https://www.pinterest.de/pin/163677767682081223/ [18.12.2020]