Bei dem Projekt «Tanz in die Zukunft» geht es um eine Videoaufnahme eines neu inszenierten Rituals in der Natur. Die gemeinsame rituelle Handlung und das «Sich-gehen-lassen», wie eine Art «Rausch-Zustand», ist die Absicht dieser Übung.
SACH- UND BEGRÜNDUNGSANALYSE
Rituale sind Kommunikationsabläufe und Interaktionen mit der Welt. Die Ritualsprache ist eine eigenständige Kunstform und ist durch Körpersymbolik beziehungsweise durch Bewegung und Ausdruck des Körpers charakterisiert. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Ritualen. Sie können weltlichen oder religiösen Charakter haben. Zentral ist die gemeinsame Akzeptanz einer Form, der einhergehende Energietransfer und die Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung.
Mithilfe von Ritualen werden zentrale Themen menschlicher Existenz immer wieder von Neuem hinterfragt, verknüpft, sicht- und erlebbar gemacht. Dadurch werden neuartige Übergänge und Zusammenhänge geschaffen, die vermeintlich unzusammenhängend erscheinen. Rituale ermöglichen also einen Ausbruch aus dem Alltag und somit auch eine Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Bewusstseinserweiterung.
ABLAUF
Das viertätige Projekt findet in Dangio (Tessin), mit dem Vorkurs Biel, statt. Es sind insgesamt 36 SuS. Jeden Tag wechselt eine Gruppe von 6-12 Personen ab. Das Projekt dauert jeweils den ganzen Tag: Am Vormittag gibt es eine Einführung mit Übungen und Diskussionen. Am Nachmittag wird die Aufgabenstellung in 3er oder 4er Gruppen ohne Anwesenheit der LP umgesetzt und am Abend werden die Arbeiten gezeigt und besprochen.
Zu Beginn des Tages lernen die SuS die Methodik der Meditation als Ritual-Form kennen. Die LP führt die Meditation mit Weihrauch und Musik durch. Nach der Sequenz wird zusammen Tee getrunken und kurz besprochen, wie sich die SuS fühlen.
Als nächsten Schritt erhalten die SuS mehrere KünstlerInnen-Zitate. Bei den Zitaten handelt es sich um einen Rausch-Zustand, der unterschiedlich beschrieben wird. Die Übung dient dazu das umfangreiche Thema des Projekts grosszügig zu schildern und einzubetten: Wie beschreiben die KünstlerInnen diesen Zustand? Was sind die wichtigen Begriffe? Gibt es Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge oder Gegensätze? Anhand der vielen Begriffe werden die wichtigsten Themenbereiche angeordnet wie Mensch, Welt, Bewegung, Rausch und Erkenntnis. Somit ist die begriffliche Grundlage des Projekts festgelegt.
„Ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war, dass Schmerz keine Rolle spielte, dass nichts eine Rolle spielte – und es war berauschend. In dem Augenblick wusste ich, dass ich mein Medium gefunden hatte.“
Marina Abramović
„Und dann das plötzliche Sich-Loslassen und der Sturz des entspannten Körpers in die Tiefe. Lebendig nur noch ein Gefühl: das der Körperlosigkeit. Und ein Wunsch: nie mehr aufstehen zu müssen, so liegen bleiben zu dürfen bis in alle Ewigkeit.“
Mary Wygman
„Tanz ist die Bewegung des Universums, konzentriert in einem einzelnen Menschen.“
Isadora Duncan
„In der Lust, im Rausch und der Ekstase geht es um die Veränderung von Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Erfahrungsmustern. Sie sind daher genuin sinnliche und im hohen Masse ästhetische Zustände.“
Jörg Zirfas
„Von mir sagt man, dass ich wahnsinnig sei; aber noch ist die Frage nicht gelöst, ob Wahnsinn nicht etwa erhabenste Erkenntnis ist…“
Edgar Allan Poe
„Je mehr aus mir herauskommt, je schneller die Zeichnungen aus mir herauskommen, desto geiler ist der Rausch. Es ist ein Rausch der Augen: je klarer ein Blatt dem vorhergegangenen entgegensteht, … desto schärfer ist der Rausch des Machens, desto ungeschützter bin ich und desto ungehemmter.“
Martin Disler
„Der Schmerz war so scharf, dass ich mehrmals ein Stöhnen ausstiess; und so überw.ltigend war die Süsse, die jener scharfe Schmerz hervorrief, dass man sie nie wieder verlieren möchte und die Seele niemals mit etwas Geringerem als Gott zufriedengeben kann.“
Hl. Teresa von Avila
„Töne haben ihre Farbe, die Farben eine Musik. Die musikalischen Noten sind Zahlen… Man sitzt da und raucht, man glaubt, in einer Pfeife zu sitzen, und unsere Pfeife raucht uns; wir sind die bläulichen Wolken, die wir aufsteigen lassen. Ein durchaus behaglicher Zustand; eines nur beschäftigt und beunruhigt uns: Wie stellt man es an, um aus seiner Pfeife wieder herauszukommen?“
Charles Baudelaire
„Ich will das «Normale», das Verkannte, das Unvermutete, das Unglaubliche, das unerhört Normale aufdecken. Das Anormale lässt es mich erkennen.“
Henri Michaux
„Ekstase begründet den «reinen Zustand» (…) eines vitalen Scharfsinns, eines vor Verlangen blinden Scharfsinns. Die Welt der Vorstellungsbilder, die durch Ekstase hervorgerufen werden, ist unbegrenzt und unbekannt…“
Salvador Dali
„Ich verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung. Die innere Erfahrung entspricht der Notwendigkeit, die für mich – und für die menschliche Existenz – darin besteht, alles rastlos in Frage zu stellen.“
George Bataille
Die Übung mit den Zitaten variiert experimentell von Tag zu Tag. Immer mit demselben Ziel, das Thema spielerisch einzuführen.
Anschliessend zeigt die LP unterschiedliche Videos kultureller Tanz-Rituale und Arbeiten von zeitgenössischen KünstlerInnen. Die SuS erkennen die zusammenhängenden Funktionen zwischen Ritual, Rausch, Kunst und Leben/Alltag.
Arbeitsauftrag
Die Gruppen inszenieren ein eigenständiges Ritual in der Natur. Die Form und der Ort der Handlung werden selbstständig ausgewählt. Die gemeinsame Begegnung, die Bewegung, der Körperausdruck, das «sich-gehen-lassen» und die Naturraumnutzung stehen dabei im Vordergrund.
Reflexion
Ritual ist ein sehr umfangreiches Thema und hat sehr viele unterschiedliche Definitionen und Funktionen. Durch die intensive Auseinandersetzung und den interessanten Diskussionen mit den SuS, sind immer mehr Fragen aufgetaucht: Ist das ganze Leben ein Ritual? Wo liegt die Grenze zwischen Ritual und Alltag? Für wen und weshalb wird das Ritual durchgeführt? Ist Religion aus einem Ritual entstanden oder umgekehrt?
Die SuS und auch die LP haben schlussendlich festgestellt, dass die absurde Befragung nach dem Sinn des Rituals, der eigentliche Antrieb der rituellen Handlung sein soll. Das Ritual ist also immer eine Gratwanderung zwischen Absurdität und Sinnhaftigkeit, zwischen Bedeutung und Belanglosigkeit, zwischen Sein und Nicht-Sein. Rituale sind dafür da, um das naive und neugierige Kind in uns zu wecken und zu fördern. Die ganze Übung soll ein traumhaftes, liebevolles und gemeinsames Spiel manifestieren. Und spielen kann jeder, sofern man es nicht verlernt hat.